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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

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gion in die Philosophie herein, die doch nichts darin zu
thun hat. Die christliche Religion ist ein mächtiges
Wesen für sich, woran die gesunkene und leidende
Menschheit von Zeit zu Zeit sich immer wieder empor¬
gearbeitet hat; und indem man ihr diese Wirkung zuge¬
steht, ist sie über aller Philosophie erhaben und bedarf
von ihr keiner Stütze. So auch bedarf der Philosoph
nicht das Ansehen der Religion, um gewisse Lehren zu
beweisen, wie z. B. die einer ewigen Fortdauer. Der
Mensch soll an Unsterblichkeit glauben, er hat dazu ein
Recht, es ist seiner Natur gemäß, und er darf auf re¬
ligiöse Zusagen bauen; wenn aber der Philosoph den
Beweis für die Unsterblichkeit unserer Seele aus einer
Legende hernehmen will, so ist das sehr schwach und
will nicht viel heißen. Die Überzeugung unserer Fort¬
dauer entspringt mir aus dem Begriff der Thätigkeit;
denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist
die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Da¬
seyns anzuweisen, wenn die jetzige meinem Geist nicht
ferner auszuhalten vermag."

Mein Herz schlug bey diesen Worten vor Bewun¬
derung und Liebe. Ist doch, dachte ich, nie eine Lehre
ausgesprochen worden, die mehr zu edlen Thaten reizt,
als diese. Denn wer will nicht bis an sein Ende un¬
ermüdlich wirken und handeln, wenn er darin die Bürg¬
schaft eines ewigen Lebens findet.

Goethe ließ ein Portefeuille mit Handzeichnungen

gion in die Philoſophie herein, die doch nichts darin zu
thun hat. Die chriſtliche Religion iſt ein maͤchtiges
Weſen fuͤr ſich, woran die geſunkene und leidende
Menſchheit von Zeit zu Zeit ſich immer wieder empor¬
gearbeitet hat; und indem man ihr dieſe Wirkung zuge¬
ſteht, iſt ſie uͤber aller Philoſophie erhaben und bedarf
von ihr keiner Stuͤtze. So auch bedarf der Philoſoph
nicht das Anſehen der Religion, um gewiſſe Lehren zu
beweiſen, wie z. B. die einer ewigen Fortdauer. Der
Menſch ſoll an Unſterblichkeit glauben, er hat dazu ein
Recht, es iſt ſeiner Natur gemaͤß, und er darf auf re¬
ligioͤſe Zuſagen bauen; wenn aber der Philoſoph den
Beweis fuͤr die Unſterblichkeit unſerer Seele aus einer
Legende hernehmen will, ſo iſt das ſehr ſchwach und
will nicht viel heißen. Die Überzeugung unſerer Fort¬
dauer entſpringt mir aus dem Begriff der Thaͤtigkeit;
denn wenn ich bis an mein Ende raſtlos wirke, ſo iſt
die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Da¬
ſeyns anzuweiſen, wenn die jetzige meinem Geiſt nicht
ferner auszuhalten vermag.“

Mein Herz ſchlug bey dieſen Worten vor Bewun¬
derung und Liebe. Iſt doch, dachte ich, nie eine Lehre
ausgeſprochen worden, die mehr zu edlen Thaten reizt,
als dieſe. Denn wer will nicht bis an ſein Ende un¬
ermuͤdlich wirken und handeln, wenn er darin die Buͤrg¬
ſchaft eines ewigen Lebens findet.

Goethe ließ ein Portefeuille mit Handzeichnungen

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[56/0066] gion in die Philoſophie herein, die doch nichts darin zu thun hat. Die chriſtliche Religion iſt ein maͤchtiges Weſen fuͤr ſich, woran die geſunkene und leidende Menſchheit von Zeit zu Zeit ſich immer wieder empor¬ gearbeitet hat; und indem man ihr dieſe Wirkung zuge¬ ſteht, iſt ſie uͤber aller Philoſophie erhaben und bedarf von ihr keiner Stuͤtze. So auch bedarf der Philoſoph nicht das Anſehen der Religion, um gewiſſe Lehren zu beweiſen, wie z. B. die einer ewigen Fortdauer. Der Menſch ſoll an Unſterblichkeit glauben, er hat dazu ein Recht, es iſt ſeiner Natur gemaͤß, und er darf auf re¬ ligioͤſe Zuſagen bauen; wenn aber der Philoſoph den Beweis fuͤr die Unſterblichkeit unſerer Seele aus einer Legende hernehmen will, ſo iſt das ſehr ſchwach und will nicht viel heißen. Die Überzeugung unſerer Fort¬ dauer entſpringt mir aus dem Begriff der Thaͤtigkeit; denn wenn ich bis an mein Ende raſtlos wirke, ſo iſt die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Da¬ ſeyns anzuweiſen, wenn die jetzige meinem Geiſt nicht ferner auszuhalten vermag.“ Mein Herz ſchlug bey dieſen Worten vor Bewun¬ derung und Liebe. Iſt doch, dachte ich, nie eine Lehre ausgeſprochen worden, die mehr zu edlen Thaten reizt, als dieſe. Denn wer will nicht bis an ſein Ende un¬ ermuͤdlich wirken und handeln, wenn er darin die Buͤrg¬ ſchaft eines ewigen Lebens findet. Goethe ließ ein Portefeuille mit Handzeichnungen

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/66>, abgerufen am 27.04.2024.