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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

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fichtenen Bohlen von Zeit zu Zeit unter der Brücke
hinglitten und bei ihrem mühsamen nassen Geschäft
überaus heiter und laut waren.

Wir aßen unsern Fisch im Freien und blieben so¬
dann noch bei einer Flasche Wein sitzen und hatten
allerlei gute Unterhaltung.

Ein kleiner Falke flog vorbei, der in seinem Flug
und seiner Gestalt große Aehnlichkeit mit dem Kuckuck
hatte.

"Es gab eine Zeit, sagte Goethe, wo das Studium
der Naturgeschichte noch so weit zurück war, daß man
die Meinung allgemein verbreitet fand, der Kuckuck sey
nur im Sommer ein Kuckuck, im Winter aber ein
Raubvogel."

Diese Ansicht, erwiederte ich, existirt im Volke auch
jetzt noch. Ja man dichtet dem guten Vogel auch an,
daß, sobald er völlig ausgewachsen sey, er seine eigenen
Eltern verschlucke. Und so gebraucht man ihn denn
als ein Gleichniß des schändlichsten Undanks. Ich
kenne noch im gegenwärtigen Augenblick Leute, die sich
diese Absurditäten durchaus nicht wollen ausreden las¬
sen, und die daran so fest hängen, wie an irgend einem
Artikel ihres christlichen Glaubens.

"Soviel ich weiß, sagte Goethe, classificirt man den
Kuckuck zu den Spechten."

Man thut so mitunter, erwiederte ich, wahrscheinlich
aus dem Grunde, weil zwei Zehen seiner schwachen

fichtenen Bohlen von Zeit zu Zeit unter der Brücke
hinglitten und bei ihrem mühſamen naſſen Geſchäft
überaus heiter und laut waren.

Wir aßen unſern Fiſch im Freien und blieben ſo¬
dann noch bei einer Flaſche Wein ſitzen und hatten
allerlei gute Unterhaltung.

Ein kleiner Falke flog vorbei, der in ſeinem Flug
und ſeiner Geſtalt große Aehnlichkeit mit dem Kuckuck
hatte.

„Es gab eine Zeit, ſagte Goethe, wo das Studium
der Naturgeſchichte noch ſo weit zurück war, daß man
die Meinung allgemein verbreitet fand, der Kuckuck ſey
nur im Sommer ein Kuckuck, im Winter aber ein
Raubvogel.“

Dieſe Anſicht, erwiederte ich, exiſtirt im Volke auch
jetzt noch. Ja man dichtet dem guten Vogel auch an,
daß, ſobald er völlig ausgewachſen ſey, er ſeine eigenen
Eltern verſchlucke. Und ſo gebraucht man ihn denn
als ein Gleichniß des ſchändlichſten Undanks. Ich
kenne noch im gegenwärtigen Augenblick Leute, die ſich
dieſe Abſurditäten durchaus nicht wollen ausreden laſ¬
ſen, und die daran ſo feſt hängen, wie an irgend einem
Artikel ihres chriſtlichen Glaubens.

„Soviel ich weiß, ſagte Goethe, claſſificirt man den
Kuckuck zu den Spechten.“

Man thut ſo mitunter, erwiederte ich, wahrſcheinlich
aus dem Grunde, weil zwei Zehen ſeiner ſchwachen

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[208/0230] fichtenen Bohlen von Zeit zu Zeit unter der Brücke hinglitten und bei ihrem mühſamen naſſen Geſchäft überaus heiter und laut waren. Wir aßen unſern Fiſch im Freien und blieben ſo¬ dann noch bei einer Flaſche Wein ſitzen und hatten allerlei gute Unterhaltung. Ein kleiner Falke flog vorbei, der in ſeinem Flug und ſeiner Geſtalt große Aehnlichkeit mit dem Kuckuck hatte. „Es gab eine Zeit, ſagte Goethe, wo das Studium der Naturgeſchichte noch ſo weit zurück war, daß man die Meinung allgemein verbreitet fand, der Kuckuck ſey nur im Sommer ein Kuckuck, im Winter aber ein Raubvogel.“ Dieſe Anſicht, erwiederte ich, exiſtirt im Volke auch jetzt noch. Ja man dichtet dem guten Vogel auch an, daß, ſobald er völlig ausgewachſen ſey, er ſeine eigenen Eltern verſchlucke. Und ſo gebraucht man ihn denn als ein Gleichniß des ſchändlichſten Undanks. Ich kenne noch im gegenwärtigen Augenblick Leute, die ſich dieſe Abſurditäten durchaus nicht wollen ausreden laſ¬ ſen, und die daran ſo feſt hängen, wie an irgend einem Artikel ihres chriſtlichen Glaubens. „Soviel ich weiß, ſagte Goethe, claſſificirt man den Kuckuck zu den Spechten.“ Man thut ſo mitunter, erwiederte ich, wahrſcheinlich aus dem Grunde, weil zwei Zehen ſeiner ſchwachen

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/230>, abgerufen am 15.05.2024.