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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

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"Guizot, sagte Goethe unter andern, ist ein Mann
nach meinem Sinne, er ist solide. Er besitzt tiefe Kennt¬
nisse, verbunden mit einem aufgeklärten Liberalismus,
der, über den Parteien stehend, seinen eigenen Weg
geht. Ich bin begierig, zu sehen, welche Rolle er in
den Kammern spielen wird, wozu man ihn jetzt ge¬
wählt hat."

Leute, die ihn nur oberflächlich zu kennen scheinen,
erwiederte ich, haben mir ihn als etwas pedantisch ge¬
schildert.

"Es bleibt zu wissen übrig, entgegnete Goethe,
welche Sorte von Pedanterie man ihm vorwirft. Alle
bedeutenden Menschen, die in ihrer Lebensweise eine
gewisse Regelmäßigkeit und feste Grundsätze besitzen,
die viel nachgedacht haben und mit den Angelegenheiten
des Lebens kein Spiel treiben, können sehr leicht in
den Augen oberflächlicher Beobachter als Pedanten er¬
scheinen. Guizot ist ein weitsehender, ruhiger, festhal¬
tender Mann, der der französischen Beweglichkeit gegen¬
über gar nicht genug zu schätzen und gerade ein solcher
ist, wie sie ihn brauchen."

"Villemain, fuhr Goethe fort, ist vielleicht glän¬
zender als Redner; er besitzt die Kunst einer gewandten
Entwickelung aus dem Grunde; er ist nie verlegen um
schlagende Ausdrücke, wodurch er die Aufmerksamkeit
fesselt und seine Hörer zu lautem Beifall fortreißt; aber

Guizot, ſagte Goethe unter andern, iſt ein Mann
nach meinem Sinne, er iſt ſolide. Er beſitzt tiefe Kennt¬
niſſe, verbunden mit einem aufgeklärten Liberalismus,
der, über den Parteien ſtehend, ſeinen eigenen Weg
geht. Ich bin begierig, zu ſehen, welche Rolle er in
den Kammern ſpielen wird, wozu man ihn jetzt ge¬
wählt hat.“

Leute, die ihn nur oberflächlich zu kennen ſcheinen,
erwiederte ich, haben mir ihn als etwas pedantiſch ge¬
ſchildert.

„Es bleibt zu wiſſen übrig, entgegnete Goethe,
welche Sorte von Pedanterie man ihm vorwirft. Alle
bedeutenden Menſchen, die in ihrer Lebensweiſe eine
gewiſſe Regelmäßigkeit und feſte Grundſätze beſitzen,
die viel nachgedacht haben und mit den Angelegenheiten
des Lebens kein Spiel treiben, können ſehr leicht in
den Augen oberflächlicher Beobachter als Pedanten er¬
ſcheinen. Guizot iſt ein weitſehender, ruhiger, feſthal¬
tender Mann, der der franzöſiſchen Beweglichkeit gegen¬
über gar nicht genug zu ſchätzen und gerade ein ſolcher
iſt, wie ſie ihn brauchen.“

Villemain, fuhr Goethe fort, iſt vielleicht glän¬
zender als Redner; er beſitzt die Kunſt einer gewandten
Entwickelung aus dem Grunde; er iſt nie verlegen um
ſchlagende Ausdrücke, wodurch er die Aufmerkſamkeit
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[286/0308] „Guizot, ſagte Goethe unter andern, iſt ein Mann nach meinem Sinne, er iſt ſolide. Er beſitzt tiefe Kennt¬ niſſe, verbunden mit einem aufgeklärten Liberalismus, der, über den Parteien ſtehend, ſeinen eigenen Weg geht. Ich bin begierig, zu ſehen, welche Rolle er in den Kammern ſpielen wird, wozu man ihn jetzt ge¬ wählt hat.“ Leute, die ihn nur oberflächlich zu kennen ſcheinen, erwiederte ich, haben mir ihn als etwas pedantiſch ge¬ ſchildert. „Es bleibt zu wiſſen übrig, entgegnete Goethe, welche Sorte von Pedanterie man ihm vorwirft. Alle bedeutenden Menſchen, die in ihrer Lebensweiſe eine gewiſſe Regelmäßigkeit und feſte Grundſätze beſitzen, die viel nachgedacht haben und mit den Angelegenheiten des Lebens kein Spiel treiben, können ſehr leicht in den Augen oberflächlicher Beobachter als Pedanten er¬ ſcheinen. Guizot iſt ein weitſehender, ruhiger, feſthal¬ tender Mann, der der franzöſiſchen Beweglichkeit gegen¬ über gar nicht genug zu ſchätzen und gerade ein ſolcher iſt, wie ſie ihn brauchen.“ „Villemain, fuhr Goethe fort, iſt vielleicht glän¬ zender als Redner; er beſitzt die Kunſt einer gewandten Entwickelung aus dem Grunde; er iſt nie verlegen um ſchlagende Ausdrücke, wodurch er die Aufmerkſamkeit feſſelt und ſeine Hörer zu lautem Beifall fortreißt; aber

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/308>, abgerufen am 29.04.2024.