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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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ßendsten Stellen des Flusses, der im Thale vorbey¬
gieng, und kannte bereits alle Pfade und Gesichter
der Gegend. Auch auf das Schloß der unbekannten
Dame war er schon einigemal wieder hinübergerit¬
ten, fand aber immer niemanden zu Hause. Alle
Tage besuchte er gewissenhaft ein Paar wunderliche
altkluge Gesellen auf dem Felde, die er auf seinen
Streifereyen ausgespürt hatte, gab ihnen Tabak zu
schnupfen, den er bloß ihrentwillen bey sich führte,
und führte Stundenlang eine tolle Unterhaltung mit
ihnen. Er las wenig, besonders von neuen Schrif¬
ten, gegen die er eine Art von Widerwillen hatte.
Demohngeachtet kannte er doch die ganze Literatur
ziemlich vollständig. Denn sein wunderliches Leben
führte ihn von selbst und wider Willen in Berüh¬
rung mit allen ausgezeichneten Männern, und was
er so bey Gelegenheit kennen lernte, faßte er schnell
und ganz auf.

Sowohl er als Friedrich besuchten fast alle
Nachmittage den einsamen Viktor, dessen kleines
Wohnhaus, von einem noch kleineren Gärtchen um¬
geben, hart am Kirchhofe lag. Dort unter den
hohen Linden, die den schönberaseten Kirchhof be¬
schatteten, fanden sie den seltsamen Menschen ver¬
graben in eine Werkstatt von Meißeln, Bohrern,
Drehscheiben und anderem unzähligen Handwerks¬
zeuge, als wollte er sich selber sein Grab bauen.
Hier arbeitete und künstelte derselbe täglich, so viel
es ihm seine Berufsgeschäfte zuließen, mit einem
unbegreiflichen Eifer und Fleiße, ohne um die an¬

ßendſten Stellen des Fluſſes, der im Thale vorbey¬
gieng, und kannte bereits alle Pfade und Geſichter
der Gegend. Auch auf das Schloß der unbekannten
Dame war er ſchon einigemal wieder hinübergerit¬
ten, fand aber immer niemanden zu Hauſe. Alle
Tage beſuchte er gewiſſenhaft ein Paar wunderliche
altkluge Geſellen auf dem Felde, die er auf ſeinen
Streifereyen ausgeſpürt hatte, gab ihnen Tabak zu
ſchnupfen, den er bloß ihrentwillen bey ſich führte,
und führte Stundenlang eine tolle Unterhaltung mit
ihnen. Er las wenig, beſonders von neuen Schrif¬
ten, gegen die er eine Art von Widerwillen hatte.
Demohngeachtet kannte er doch die ganze Literatur
ziemlich vollſtändig. Denn ſein wunderliches Leben
führte ihn von ſelbſt und wider Willen in Berüh¬
rung mit allen ausgezeichneten Männern, und was
er ſo bey Gelegenheit kennen lernte, faßte er ſchnell
und ganz auf.

Sowohl er als Friedrich beſuchten faſt alle
Nachmittage den einſamen Viktor, deſſen kleines
Wohnhaus, von einem noch kleineren Gärtchen um¬
geben, hart am Kirchhofe lag. Dort unter den
hohen Linden, die den ſchönberaſeten Kirchhof be¬
ſchatteten, fanden ſie den ſeltſamen Menſchen ver¬
graben in eine Werkſtatt von Meißeln, Bohrern,
Drehſcheiben und anderem unzähligen Handwerks¬
zeuge, als wollte er ſich ſelber ſein Grab bauen.
Hier arbeitete und künſtelte derſelbe täglich, ſo viel
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[151/0157] ßendſten Stellen des Fluſſes, der im Thale vorbey¬ gieng, und kannte bereits alle Pfade und Geſichter der Gegend. Auch auf das Schloß der unbekannten Dame war er ſchon einigemal wieder hinübergerit¬ ten, fand aber immer niemanden zu Hauſe. Alle Tage beſuchte er gewiſſenhaft ein Paar wunderliche altkluge Geſellen auf dem Felde, die er auf ſeinen Streifereyen ausgeſpürt hatte, gab ihnen Tabak zu ſchnupfen, den er bloß ihrentwillen bey ſich führte, und führte Stundenlang eine tolle Unterhaltung mit ihnen. Er las wenig, beſonders von neuen Schrif¬ ten, gegen die er eine Art von Widerwillen hatte. Demohngeachtet kannte er doch die ganze Literatur ziemlich vollſtändig. Denn ſein wunderliches Leben führte ihn von ſelbſt und wider Willen in Berüh¬ rung mit allen ausgezeichneten Männern, und was er ſo bey Gelegenheit kennen lernte, faßte er ſchnell und ganz auf. Sowohl er als Friedrich beſuchten faſt alle Nachmittage den einſamen Viktor, deſſen kleines Wohnhaus, von einem noch kleineren Gärtchen um¬ geben, hart am Kirchhofe lag. Dort unter den hohen Linden, die den ſchönberaſeten Kirchhof be¬ ſchatteten, fanden ſie den ſeltſamen Menſchen ver¬ graben in eine Werkſtatt von Meißeln, Bohrern, Drehſcheiben und anderem unzähligen Handwerks¬ zeuge, als wollte er ſich ſelber ſein Grab bauen. Hier arbeitete und künſtelte derſelbe täglich, ſo viel es ihm ſeine Berufsgeſchäfte zuließen, mit einem unbegreiflichen Eifer und Fleiße, ohne um die an¬

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/157>, abgerufen am 27.04.2024.