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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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Faber brach, als sie geendigt hatte, einen Ei¬
chenzweig von einem herabhängenden Aste, bog ihn
schnell zu einem Kranze zusammen und überreichte
ihr denselben, indem er mit altritterlicher Galanterie
vor ihr hinkniete. Julie drückte den Kranz mit sei¬
nen frischgrünen, vollen Blättern lächelnd in ihre
blonden Locken über die ernsten, großen Augen,
und sah so wirklich dem Bilde nicht unähnlich, das
sie besungen. --

Es ist seltsam, sagte Faber darauf, wie sich
unser Gespräch nach und nach beynah in einen
Wechselgesang aufgelöst hat. Der weite, gestirnte
Himmel, das Rauschen der Wälder ringsumher,
der innere Reichthum und die überschwengliche
Wonne, mit welcher neue Entschlüsse uns jederzeit
erfüllen, alles kommt zusammen; es ist, als hörte
die Seele in der Ferne unaufhörlich eine große,
himmlische Melodie, wie von einem unbekannten
Strome, der durch die Welt zieht, und so werden
am Ende auch die Worte unwillkührlich melodisch,
als wollten sie jenen wunderbaren Strom erreichen
und mitzieh'n. So fällt auch mir jetzt ein Sonett
ein, das Euch am besten erklären mag, was ich von
Leontins Vorhaben halte. Er sprach:

In Wind verfliegen sah ich, was wir klagen,
Erbärmlich Volk um falscher Götzen Thronen,
Wen'ger Gedanken, deutschen Landes Kronen,
Wie Felsen, aus dem Jammer einsam ragen.
Da

Faber brach, als ſie geendigt hatte, einen Ei¬
chenzweig von einem herabhängenden Aſte, bog ihn
ſchnell zu einem Kranze zuſammen und überreichte
ihr denſelben, indem er mit altritterlicher Galanterie
vor ihr hinkniete. Julie drückte den Kranz mit ſei¬
nen friſchgrünen, vollen Blättern lächelnd in ihre
blonden Locken über die ernſten, großen Augen,
und ſah ſo wirklich dem Bilde nicht unähnlich, das
ſie beſungen. —

Es iſt ſeltſam, ſagte Faber darauf, wie ſich
unſer Geſpräch nach und nach beynah in einen
Wechſelgeſang aufgelöst hat. Der weite, geſtirnte
Himmel, das Rauſchen der Wälder ringsumher,
der innere Reichthum und die überſchwengliche
Wonne, mit welcher neue Entſchlüſſe uns jederzeit
erfüllen, alles kommt zuſammen; es iſt, als hörte
die Seele in der Ferne unaufhörlich eine große,
himmliſche Melodie, wie von einem unbekannten
Strome, der durch die Welt zieht, und ſo werden
am Ende auch die Worte unwillkührlich melodiſch,
als wollten ſie jenen wunderbaren Strom erreichen
und mitzieh'n. So fällt auch mir jetzt ein Sonett
ein, das Euch am beſten erklären mag, was ich von
Leontins Vorhaben halte. Er ſprach:

In Wind verfliegen ſah ich, was wir klagen,
Erbärmlich Volk um falſcher Götzen Thronen,
Wen'ger Gedanken, deutſchen Landes Kronen,
Wie Felſen, aus dem Jammer einſam ragen.
Da
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[464/0470] Faber brach, als ſie geendigt hatte, einen Ei¬ chenzweig von einem herabhängenden Aſte, bog ihn ſchnell zu einem Kranze zuſammen und überreichte ihr denſelben, indem er mit altritterlicher Galanterie vor ihr hinkniete. Julie drückte den Kranz mit ſei¬ nen friſchgrünen, vollen Blättern lächelnd in ihre blonden Locken über die ernſten, großen Augen, und ſah ſo wirklich dem Bilde nicht unähnlich, das ſie beſungen. — Es iſt ſeltſam, ſagte Faber darauf, wie ſich unſer Geſpräch nach und nach beynah in einen Wechſelgeſang aufgelöst hat. Der weite, geſtirnte Himmel, das Rauſchen der Wälder ringsumher, der innere Reichthum und die überſchwengliche Wonne, mit welcher neue Entſchlüſſe uns jederzeit erfüllen, alles kommt zuſammen; es iſt, als hörte die Seele in der Ferne unaufhörlich eine große, himmliſche Melodie, wie von einem unbekannten Strome, der durch die Welt zieht, und ſo werden am Ende auch die Worte unwillkührlich melodiſch, als wollten ſie jenen wunderbaren Strom erreichen und mitzieh'n. So fällt auch mir jetzt ein Sonett ein, das Euch am beſten erklären mag, was ich von Leontins Vorhaben halte. Er ſprach: In Wind verfliegen ſah ich, was wir klagen, Erbärmlich Volk um falſcher Götzen Thronen, Wen'ger Gedanken, deutſchen Landes Kronen, Wie Felſen, aus dem Jammer einſam ragen. Da

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/470>, abgerufen am 28.04.2024.