Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eichendorff, Joseph von: Dichter und ihre Gesellen. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

wies ihn auf einen Fußsteig, der grade durch die
Wälder führen sollte. Einsam schritt er nun zwischen
die Berge hinein; wie so anders, dachte er, als ich
vor vielen Jahren hier auswanderte! Nun ist es
Schlafenszeit, und alles ist vorüber. -- Die schlei¬
chende Gewalt der Krankheit, von der durchwachten
Nacht und Anstrengung neu geschürt, brach und reckte
und dehnte ihn heimlich in allen Gliedern, er mußte
öfters rasten, und verließ endlich vor Ermüdung den
Fußsteig, um, wo möglich, ein Dorf zu erlangen.
Aber kein Haus wollte sich zeigen, es war so still den
Wald entlang, daß man die Spechte picken hörte.
So hatte er Zeit und Weg verloren; der Abend fun¬
kelte schon durch die Wipfel, die Gegend wurde ihm
immer fremder, je weiter er fortging.

Da erblickte er seitwärts ein kleines Mädchen,
das im Walde Blumen pflückte. Als er hinzutrat,
wandte sie sich schnell herum, es war ihm plötzlich vor
den klaren, unschuldigen Augen wie in den Himmels¬
grund zu sehen. Die Abendsonne schimmerte durch
die blonden Locken, er streichelte und küßt' es herzlich
auf die blanke Stirn.

Das schien dem armen Kinde selten zu begegnen,
es suchte emsig in seiner Schürze und reichte ihm eine
wilde weiße Rose, und als er fragte, ob es ihm den
Weg aus dem Walde weisen könne, gab es ihm ver¬
traulich die Hand, während es mit der andern sorg¬

wies ihn auf einen Fußſteig, der grade durch die
Waͤlder fuͤhren ſollte. Einſam ſchritt er nun zwiſchen
die Berge hinein; wie ſo anders, dachte er, als ich
vor vielen Jahren hier auswanderte! Nun iſt es
Schlafenszeit, und alles iſt voruͤber. — Die ſchlei¬
chende Gewalt der Krankheit, von der durchwachten
Nacht und Anſtrengung neu geſchuͤrt, brach und reckte
und dehnte ihn heimlich in allen Gliedern, er mußte
oͤfters raſten, und verließ endlich vor Ermuͤdung den
Fußſteig, um, wo moͤglich, ein Dorf zu erlangen.
Aber kein Haus wollte ſich zeigen, es war ſo ſtill den
Wald entlang, daß man die Spechte picken hoͤrte.
So hatte er Zeit und Weg verloren; der Abend fun¬
kelte ſchon durch die Wipfel, die Gegend wurde ihm
immer fremder, je weiter er fortging.

Da erblickte er ſeitwaͤrts ein kleines Maͤdchen,
das im Walde Blumen pfluͤckte. Als er hinzutrat,
wandte ſie ſich ſchnell herum, es war ihm ploͤtzlich vor
den klaren, unſchuldigen Augen wie in den Himmels¬
grund zu ſehen. Die Abendſonne ſchimmerte durch
die blonden Locken, er ſtreichelte und kuͤßt' es herzlich
auf die blanke Stirn.

Das ſchien dem armen Kinde ſelten zu begegnen,
es ſuchte emſig in ſeiner Schuͤrze und reichte ihm eine
wilde weiße Roſe, und als er fragte, ob es ihm den
Weg aus dem Walde weiſen koͤnne, gab es ihm ver¬
traulich die Hand, waͤhrend es mit der andern ſorg¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0329" n="322"/>
wies ihn auf einen Fuß&#x017F;teig, der grade durch die<lb/>
Wa&#x0364;lder fu&#x0364;hren &#x017F;ollte. Ein&#x017F;am &#x017F;chritt er nun zwi&#x017F;chen<lb/>
die Berge hinein; wie &#x017F;o anders, dachte er, als ich<lb/>
vor vielen Jahren hier auswanderte! Nun i&#x017F;t es<lb/>
Schlafenszeit, und alles i&#x017F;t voru&#x0364;ber. &#x2014; Die &#x017F;chlei¬<lb/>
chende Gewalt der Krankheit, von der durchwachten<lb/>
Nacht und An&#x017F;trengung neu ge&#x017F;chu&#x0364;rt, brach und reckte<lb/>
und dehnte ihn heimlich in allen Gliedern, er mußte<lb/>
o&#x0364;fters ra&#x017F;ten, und verließ endlich vor Ermu&#x0364;dung den<lb/>
Fuß&#x017F;teig, um, wo mo&#x0364;glich, ein Dorf zu erlangen.<lb/>
Aber kein Haus wollte &#x017F;ich zeigen, es war &#x017F;o &#x017F;till den<lb/>
Wald entlang, daß man die Spechte picken ho&#x0364;rte.<lb/>
So hatte er Zeit und Weg verloren; der Abend fun¬<lb/>
kelte &#x017F;chon durch die Wipfel, die Gegend wurde ihm<lb/>
immer fremder, je weiter er fortging.</p><lb/>
          <p>Da erblickte er &#x017F;eitwa&#x0364;rts ein kleines Ma&#x0364;dchen,<lb/>
das im Walde Blumen pflu&#x0364;ckte. Als er hinzutrat,<lb/>
wandte &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;chnell herum, es war ihm plo&#x0364;tzlich vor<lb/>
den klaren, un&#x017F;chuldigen Augen wie in den Himmels¬<lb/>
grund zu &#x017F;ehen. Die Abend&#x017F;onne &#x017F;chimmerte durch<lb/>
die blonden Locken, er &#x017F;treichelte und ku&#x0364;ßt' es herzlich<lb/>
auf die blanke Stirn.</p><lb/>
          <p>Das &#x017F;chien dem armen Kinde &#x017F;elten zu begegnen,<lb/>
es &#x017F;uchte em&#x017F;ig in &#x017F;einer Schu&#x0364;rze und reichte ihm eine<lb/>
wilde weiße Ro&#x017F;e, und als er fragte, ob es ihm den<lb/>
Weg aus dem Walde wei&#x017F;en ko&#x0364;nne, gab es ihm ver¬<lb/>
traulich die Hand, wa&#x0364;hrend es mit der andern &#x017F;org¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[322/0329] wies ihn auf einen Fußſteig, der grade durch die Waͤlder fuͤhren ſollte. Einſam ſchritt er nun zwiſchen die Berge hinein; wie ſo anders, dachte er, als ich vor vielen Jahren hier auswanderte! Nun iſt es Schlafenszeit, und alles iſt voruͤber. — Die ſchlei¬ chende Gewalt der Krankheit, von der durchwachten Nacht und Anſtrengung neu geſchuͤrt, brach und reckte und dehnte ihn heimlich in allen Gliedern, er mußte oͤfters raſten, und verließ endlich vor Ermuͤdung den Fußſteig, um, wo moͤglich, ein Dorf zu erlangen. Aber kein Haus wollte ſich zeigen, es war ſo ſtill den Wald entlang, daß man die Spechte picken hoͤrte. So hatte er Zeit und Weg verloren; der Abend fun¬ kelte ſchon durch die Wipfel, die Gegend wurde ihm immer fremder, je weiter er fortging. Da erblickte er ſeitwaͤrts ein kleines Maͤdchen, das im Walde Blumen pfluͤckte. Als er hinzutrat, wandte ſie ſich ſchnell herum, es war ihm ploͤtzlich vor den klaren, unſchuldigen Augen wie in den Himmels¬ grund zu ſehen. Die Abendſonne ſchimmerte durch die blonden Locken, er ſtreichelte und kuͤßt' es herzlich auf die blanke Stirn. Das ſchien dem armen Kinde ſelten zu begegnen, es ſuchte emſig in ſeiner Schuͤrze und reichte ihm eine wilde weiße Roſe, und als er fragte, ob es ihm den Weg aus dem Walde weiſen koͤnne, gab es ihm ver¬ traulich die Hand, waͤhrend es mit der andern ſorg¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_dichter_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_dichter_1834/329
Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Dichter und ihre Gesellen. Berlin, 1834, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_dichter_1834/329>, abgerufen am 12.05.2024.