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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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III. Die Neuzeit.
mit voller Berücksichtigung der darzustellenden Charaktere. Und
so reich und mannichfaltig ist er darin wie das Leben selbst. So
ist er im vollsten Sinne des Worts realistisch wie die ganze ächt
deutsche Kunst seiner Zeit. Ideal erscheint er nur darin, daß er
seine Schöpfungen mit einem Reichthum, einer Kraft und Tiefe
des geistigen Inhalts, mit einer Fülle von Gedanken und Em-
pfindungen begabte, die weit über das gewöhnliche Maß mensch-
licher Größe hinausliegen. Die ganze deutsche Kunst seiner Zeit
riß er in diese Bahn hinein, einerlei, ob die Meister seine Schü-
ler gewesen oder nicht; aus seinen Kupferstichen und Holzschnit-
ten lernten sie alle. Das ganze bewegte Leben jener Periode
dringt in die Kunst ein und erfüllt sie als Inhalt; sie wird ein
Spiegelbild der Welt, welches die Fortschritte der Wissenschaft,
die geistigen und religiösen Kämpfe, die politischen und kriegeri-
schen Wirren und Ausgeburten, das sociale Leben in derber,
nackter Sinnlichkeit zurückstrahlt. Nie fand eine innigere Ver-
bindung zwischen der Kunst und dem Leben statt. Dürers Nach-
folger, die s. g. Kleinmeister, zeigten sich fast noch derb natura-
listischer, wie Hans Sebald Beham. Als aber gegen die Mitte
des Jahrhunderts der italische Geschmack bewältigend über die
Alpen drang, da war es mit der deutschen Kunst vorbei. Es kam
die Zeit der geist- und gehaltlosen Manieristen.

Weit bekannter ist die Umwälzung, welche in Wissenschaft
und Schule stattfand. Obwohl sie bereits schon lange in der
wieder erwachten Liebe zum classischen Alterthum vorbereitet war,
und die Buchdruckerkunst ihr die Möglichkeit gegeben hatte, eine
allgemeine zu werden und bis in den tiefsten Kern des Volks zu
dringen, so traten doch erst seit dem Jahre 1500 die Resultate in
entsprechender Weise auf. Der menschliche Geist wurde der scho-
lastischen Befangenheit entrissen und ihm die freie Forschung ge-
wahrt, auf welcher alle Erfolge der Neuzeit beruhen.

Während so das gesammte Culturleben im Begriff steht,
theils freiwillig, theils gezwungen mit dem Mittelalter zu bre-
chen, während es bemüht ist, die todten, erstarrten Formen, die
es drücken und beengen, von sich abzustreifen und die neuen

III. Die Neuzeit.
mit voller Berückſichtigung der darzuſtellenden Charaktere. Und
ſo reich und mannichfaltig iſt er darin wie das Leben ſelbſt. So
iſt er im vollſten Sinne des Worts realiſtiſch wie die ganze ächt
deutſche Kunſt ſeiner Zeit. Ideal erſcheint er nur darin, daß er
ſeine Schöpfungen mit einem Reichthum, einer Kraft und Tiefe
des geiſtigen Inhalts, mit einer Fülle von Gedanken und Em-
pfindungen begabte, die weit über das gewöhnliche Maß menſch-
licher Größe hinausliegen. Die ganze deutſche Kunſt ſeiner Zeit
riß er in dieſe Bahn hinein, einerlei, ob die Meiſter ſeine Schü-
ler geweſen oder nicht; aus ſeinen Kupferſtichen und Holzſchnit-
ten lernten ſie alle. Das ganze bewegte Leben jener Periode
dringt in die Kunſt ein und erfüllt ſie als Inhalt; ſie wird ein
Spiegelbild der Welt, welches die Fortſchritte der Wiſſenſchaft,
die geiſtigen und religiöſen Kämpfe, die politiſchen und kriegeri-
ſchen Wirren und Ausgeburten, das ſociale Leben in derber,
nackter Sinnlichkeit zurückſtrahlt. Nie fand eine innigere Ver-
bindung zwiſchen der Kunſt und dem Leben ſtatt. Dürers Nach-
folger, die ſ. g. Kleinmeiſter, zeigten ſich faſt noch derb natura-
liſtiſcher, wie Hans Sebald Beham. Als aber gegen die Mitte
des Jahrhunderts der italiſche Geſchmack bewältigend über die
Alpen drang, da war es mit der deutſchen Kunſt vorbei. Es kam
die Zeit der geiſt- und gehaltloſen Manieriſten.

Weit bekannter iſt die Umwälzung, welche in Wiſſenſchaft
und Schule ſtattfand. Obwohl ſie bereits ſchon lange in der
wieder erwachten Liebe zum claſſiſchen Alterthum vorbereitet war,
und die Buchdruckerkunſt ihr die Möglichkeit gegeben hatte, eine
allgemeine zu werden und bis in den tiefſten Kern des Volks zu
dringen, ſo traten doch erſt ſeit dem Jahre 1500 die Reſultate in
entſprechender Weiſe auf. Der menſchliche Geiſt wurde der ſcho-
laſtiſchen Befangenheit entriſſen und ihm die freie Forſchung ge-
wahrt, auf welcher alle Erfolge der Neuzeit beruhen.

Während ſo das geſammte Culturleben im Begriff ſteht,
theils freiwillig, theils gezwungen mit dem Mittelalter zu bre-
chen, während es bemüht iſt, die todten, erſtarrten Formen, die
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[10/0022] III. Die Neuzeit. mit voller Berückſichtigung der darzuſtellenden Charaktere. Und ſo reich und mannichfaltig iſt er darin wie das Leben ſelbſt. So iſt er im vollſten Sinne des Worts realiſtiſch wie die ganze ächt deutſche Kunſt ſeiner Zeit. Ideal erſcheint er nur darin, daß er ſeine Schöpfungen mit einem Reichthum, einer Kraft und Tiefe des geiſtigen Inhalts, mit einer Fülle von Gedanken und Em- pfindungen begabte, die weit über das gewöhnliche Maß menſch- licher Größe hinausliegen. Die ganze deutſche Kunſt ſeiner Zeit riß er in dieſe Bahn hinein, einerlei, ob die Meiſter ſeine Schü- ler geweſen oder nicht; aus ſeinen Kupferſtichen und Holzſchnit- ten lernten ſie alle. Das ganze bewegte Leben jener Periode dringt in die Kunſt ein und erfüllt ſie als Inhalt; ſie wird ein Spiegelbild der Welt, welches die Fortſchritte der Wiſſenſchaft, die geiſtigen und religiöſen Kämpfe, die politiſchen und kriegeri- ſchen Wirren und Ausgeburten, das ſociale Leben in derber, nackter Sinnlichkeit zurückſtrahlt. Nie fand eine innigere Ver- bindung zwiſchen der Kunſt und dem Leben ſtatt. Dürers Nach- folger, die ſ. g. Kleinmeiſter, zeigten ſich faſt noch derb natura- liſtiſcher, wie Hans Sebald Beham. Als aber gegen die Mitte des Jahrhunderts der italiſche Geſchmack bewältigend über die Alpen drang, da war es mit der deutſchen Kunſt vorbei. Es kam die Zeit der geiſt- und gehaltloſen Manieriſten. Weit bekannter iſt die Umwälzung, welche in Wiſſenſchaft und Schule ſtattfand. Obwohl ſie bereits ſchon lange in der wieder erwachten Liebe zum claſſiſchen Alterthum vorbereitet war, und die Buchdruckerkunſt ihr die Möglichkeit gegeben hatte, eine allgemeine zu werden und bis in den tiefſten Kern des Volks zu dringen, ſo traten doch erſt ſeit dem Jahre 1500 die Reſultate in entſprechender Weiſe auf. Der menſchliche Geiſt wurde der ſcho- laſtiſchen Befangenheit entriſſen und ihm die freie Forſchung ge- wahrt, auf welcher alle Erfolge der Neuzeit beruhen. Während ſo das geſammte Culturleben im Begriff ſteht, theils freiwillig, theils gezwungen mit dem Mittelalter zu bre- chen, während es bemüht iſt, die todten, erſtarrten Formen, die es drücken und beengen, von ſich abzuſtreifen und die neuen

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Zitationshilfe: Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858/22>, abgerufen am 30.04.2024.