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[Fessler, Ignaz Aurelius]: Eleusinien des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. Berlin, 1803.

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Pflicht, je schwerer es scheint. Wahrhaftig, mein
Bruder, man mag von den Temperaments-Tugen-
den sagen was man will, sie mögen angenehm seyn.
Aber die Tugend verdient nur eigentlich den Na-
men, die unseren Herzen und Neigungen etwas kostet.

Dieser letzte Gedanke führt mich ganz natür-
lich auf eine Hauptpflicht des Ordens: unsere Lei-
denschaften zu ordnen
, und der dazu noth-
wendigen Wissenschaft, uns selbst kennen zu
lernen
. Es wäre höchst überflüssig, wenn ich
beweisen wollte, daß dieses Studium nöthig ist.
Aber es ist eben so klar, daß wenige die Selbst-
Untersuchung für sich allein mit der gehörigen
Unpartheilichkeit anzustellen vermögend sind. Und
kennen müssen wir unsere Leidenschaften, wenn
wir sie zu unsern Unterthanen machen wollen.
Sollen wir uns denn von unsern Feinden allein
belehren lassen? Sie werden uns freilich keinen
Fehler, oder welches einerlei ist, keine unordentliche
Leidenschaften unangemerkt schenken. Allein wer-
den wir Ihnen trauen? Werden wir nicht sehr
geneigt seyn, zu glauben: sie tadeln uns, um uns
Verdruß zu machen? Welcher Vortheil ist es nicht
also, wenn wir Freunde haben, von deren Redlich-
keit und Liebe gegen uns wir überzeugt sind,
wenn sie uns unsere Schwachheiten und Fehler
mit vernünftiger Sanftmuth und Liebe bemerken
lassen, und wenn sie mit den Eigenschaften des
menschlichen Herzens recht bekannt sind, uns Ver-
anlassung zu geben, diese Schwachheiten, diese Feh-
ler zu verbessern. O es mag mir ein Bruder,

Pflicht, je ſchwerer es ſcheint. Wahrhaftig, mein
Bruder, man mag von den Temperaments-Tugen-
den ſagen was man will, ſie moͤgen angenehm ſeyn.
Aber die Tugend verdient nur eigentlich den Na-
men, die unſeren Herzen und Neigungen etwas koſtet.

Dieſer letzte Gedanke fuͤhrt mich ganz natuͤr-
lich auf eine Hauptpflicht des Ordens: unſere Lei-
denſchaften zu ordnen
, und der dazu noth-
wendigen Wiſſenſchaft, uns ſelbſt kennen zu
lernen
. Es waͤre hoͤchſt uͤberfluͤſſig, wenn ich
beweiſen wollte, daß dieſes Studium noͤthig iſt.
Aber es iſt eben ſo klar, daß wenige die Selbſt-
Unterſuchung fuͤr ſich allein mit der gehoͤrigen
Unpartheilichkeit anzuſtellen vermoͤgend ſind. Und
kennen muͤſſen wir unſere Leidenſchaften, wenn
wir ſie zu unſern Unterthanen machen wollen.
Sollen wir uns denn von unſern Feinden allein
belehren laſſen? Sie werden uns freilich keinen
Fehler, oder welches einerlei iſt, keine unordentliche
Leidenſchaften unangemerkt ſchenken. Allein wer-
den wir Ihnen trauen? Werden wir nicht ſehr
geneigt ſeyn, zu glauben: ſie tadeln uns, um uns
Verdruß zu machen? Welcher Vortheil iſt es nicht
alſo, wenn wir Freunde haben, von deren Redlich-
keit und Liebe gegen uns wir uͤberzeugt ſind,
wenn ſie uns unſere Schwachheiten und Fehler
mit vernuͤnftiger Sanftmuth und Liebe bemerken
laſſen, und wenn ſie mit den Eigenſchaften des
menſchlichen Herzens recht bekannt ſind, uns Ver-
anlaſſung zu geben, dieſe Schwachheiten, dieſe Feh-
ler zu verbeſſern. O es mag mir ein Bruder,

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[261/0283] Pflicht, je ſchwerer es ſcheint. Wahrhaftig, mein Bruder, man mag von den Temperaments-Tugen- den ſagen was man will, ſie moͤgen angenehm ſeyn. Aber die Tugend verdient nur eigentlich den Na- men, die unſeren Herzen und Neigungen etwas koſtet. Dieſer letzte Gedanke fuͤhrt mich ganz natuͤr- lich auf eine Hauptpflicht des Ordens: unſere Lei- denſchaften zu ordnen, und der dazu noth- wendigen Wiſſenſchaft, uns ſelbſt kennen zu lernen. Es waͤre hoͤchſt uͤberfluͤſſig, wenn ich beweiſen wollte, daß dieſes Studium noͤthig iſt. Aber es iſt eben ſo klar, daß wenige die Selbſt- Unterſuchung fuͤr ſich allein mit der gehoͤrigen Unpartheilichkeit anzuſtellen vermoͤgend ſind. Und kennen muͤſſen wir unſere Leidenſchaften, wenn wir ſie zu unſern Unterthanen machen wollen. Sollen wir uns denn von unſern Feinden allein belehren laſſen? Sie werden uns freilich keinen Fehler, oder welches einerlei iſt, keine unordentliche Leidenſchaften unangemerkt ſchenken. Allein wer- den wir Ihnen trauen? Werden wir nicht ſehr geneigt ſeyn, zu glauben: ſie tadeln uns, um uns Verdruß zu machen? Welcher Vortheil iſt es nicht alſo, wenn wir Freunde haben, von deren Redlich- keit und Liebe gegen uns wir uͤberzeugt ſind, wenn ſie uns unſere Schwachheiten und Fehler mit vernuͤnftiger Sanftmuth und Liebe bemerken laſſen, und wenn ſie mit den Eigenſchaften des menſchlichen Herzens recht bekannt ſind, uns Ver- anlaſſung zu geben, dieſe Schwachheiten, dieſe Feh- ler zu verbeſſern. O es mag mir ein Bruder,

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Zitationshilfe: [Fessler, Ignaz Aurelius]: Eleusinien des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. Berlin, 1803, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fessler_eleusinien02_1803/283>, abgerufen am 29.04.2024.