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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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Sehnsucht nach der Mutter ist, weil sein weibliches, liebevolles
Herz nur in einem weiblichen Leibe den entsprechenden Aus-
druck fand? Zwar weilt der Sohn nur neun Monden lang
unter dem Obdach des weiblichen Herzens, aber die Eindrücke,
die er hier empfängt, sind unauslöschlich. Die Mutter kommt
dem Sohne nimmer aus dem Sinne und Herzen. Wenn da-
her die Anbetung des Sohnes Gottes kein Götzendienst, so
ist auch die Anbetung der Mutter Gottes kein Götzendienst.
Schämt sich Gott nicht einen Sohn zu haben, so braucht er
sich auch nicht einer Mutter zu schämen. Wenn wir daraus
die Liebe Gottes zu uns erkennen sollen, daß er seinen einge-
bornen Sohn, d. h. das einzige Kind, das Liebste und Theuerste,
was er hatte, für uns zum Heile dahin gab; so können wir
diese Liebe noch weit besser erkennen, wenn uns in Gott ein
Mutterherz entgegenschlägt. Die höchste und tiefste Liebe ist
die Mutterliebe. Der Vater tröstet sich über den Verlust des
Sohnes; er hat ein stoisches Princip in sich. Die Mutter
dagegen ist untröstlich; die Mutter ist die Schmerzenreiche,
aber die Trostlosigkeit die Wahrheit der Liebe.

Wo der Glaube an die Mutter Gottes sinkt, da sinkt auch
der Glaube an den Sohn Gottes und den Gott Vater. Der
Vater ist nur da eine Wahrheit, wo die Mutter eine Wahr-
heit ist. Die Liebe ist an und für sich weiblichen Geschlechts
und Wesens. Der Glaube an die Liebe Gottes ist der Glaube
an das weibliche als ein göttliches Princip. Liebe
ohne Natur
ist ein Unding, ein Phantom. An der Liebe er-
kennt die heilige Nothwendigkeit und Tiefe der Natur!

Der Protestantismus *) hat die Mutter Gottes auf die

*) Es ist hier wie anderwärts natürlich immer nur der religiöse oder
theologische Protestantismus gemeint.
6*

Sehnſucht nach der Mutter iſt, weil ſein weibliches, liebevolles
Herz nur in einem weiblichen Leibe den entſprechenden Aus-
druck fand? Zwar weilt der Sohn nur neun Monden lang
unter dem Obdach des weiblichen Herzens, aber die Eindrücke,
die er hier empfängt, ſind unauslöſchlich. Die Mutter kommt
dem Sohne nimmer aus dem Sinne und Herzen. Wenn da-
her die Anbetung des Sohnes Gottes kein Götzendienſt, ſo
iſt auch die Anbetung der Mutter Gottes kein Götzendienſt.
Schämt ſich Gott nicht einen Sohn zu haben, ſo braucht er
ſich auch nicht einer Mutter zu ſchämen. Wenn wir daraus
die Liebe Gottes zu uns erkennen ſollen, daß er ſeinen einge-
bornen Sohn, d. h. das einzige Kind, das Liebſte und Theuerſte,
was er hatte, für uns zum Heile dahin gab; ſo können wir
dieſe Liebe noch weit beſſer erkennen, wenn uns in Gott ein
Mutterherz entgegenſchlägt. Die höchſte und tiefſte Liebe iſt
die Mutterliebe. Der Vater tröſtet ſich über den Verluſt des
Sohnes; er hat ein ſtoiſches Princip in ſich. Die Mutter
dagegen iſt untröſtlich; die Mutter iſt die Schmerzenreiche,
aber die Troſtloſigkeit die Wahrheit der Liebe.

Wo der Glaube an die Mutter Gottes ſinkt, da ſinkt auch
der Glaube an den Sohn Gottes und den Gott Vater. Der
Vater iſt nur da eine Wahrheit, wo die Mutter eine Wahr-
heit iſt. Die Liebe iſt an und für ſich weiblichen Geſchlechts
und Weſens. Der Glaube an die Liebe Gottes iſt der Glaube
an das weibliche als ein göttliches Princip. Liebe
ohne Natur
iſt ein Unding, ein Phantom. An der Liebe er-
kennt die heilige Nothwendigkeit und Tiefe der Natur!

Der Proteſtantismus *) hat die Mutter Gottes auf die

*) Es iſt hier wie anderwärts natürlich immer nur der religiöſe oder
theologiſche Proteſtantismus gemeint.
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[83/0101] Sehnſucht nach der Mutter iſt, weil ſein weibliches, liebevolles Herz nur in einem weiblichen Leibe den entſprechenden Aus- druck fand? Zwar weilt der Sohn nur neun Monden lang unter dem Obdach des weiblichen Herzens, aber die Eindrücke, die er hier empfängt, ſind unauslöſchlich. Die Mutter kommt dem Sohne nimmer aus dem Sinne und Herzen. Wenn da- her die Anbetung des Sohnes Gottes kein Götzendienſt, ſo iſt auch die Anbetung der Mutter Gottes kein Götzendienſt. Schämt ſich Gott nicht einen Sohn zu haben, ſo braucht er ſich auch nicht einer Mutter zu ſchämen. Wenn wir daraus die Liebe Gottes zu uns erkennen ſollen, daß er ſeinen einge- bornen Sohn, d. h. das einzige Kind, das Liebſte und Theuerſte, was er hatte, für uns zum Heile dahin gab; ſo können wir dieſe Liebe noch weit beſſer erkennen, wenn uns in Gott ein Mutterherz entgegenſchlägt. Die höchſte und tiefſte Liebe iſt die Mutterliebe. Der Vater tröſtet ſich über den Verluſt des Sohnes; er hat ein ſtoiſches Princip in ſich. Die Mutter dagegen iſt untröſtlich; die Mutter iſt die Schmerzenreiche, aber die Troſtloſigkeit die Wahrheit der Liebe. Wo der Glaube an die Mutter Gottes ſinkt, da ſinkt auch der Glaube an den Sohn Gottes und den Gott Vater. Der Vater iſt nur da eine Wahrheit, wo die Mutter eine Wahr- heit iſt. Die Liebe iſt an und für ſich weiblichen Geſchlechts und Weſens. Der Glaube an die Liebe Gottes iſt der Glaube an das weibliche als ein göttliches Princip. Liebe ohne Natur iſt ein Unding, ein Phantom. An der Liebe er- kennt die heilige Nothwendigkeit und Tiefe der Natur! Der Proteſtantismus *) hat die Mutter Gottes auf die *) Es iſt hier wie anderwärts natürlich immer nur der religiöſe oder theologiſche Proteſtantismus gemeint. 6*

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/101>, abgerufen am 28.04.2024.