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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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Die oberflächlichste Ansicht vom Gebet ist, wenn man in
ihm nur einen Ausdruck des Abhängigkeitsgefühles sieht.
Allerdings drückt es ein solches aus, aber die Abhängigkeit
des Menschen von seinem Herzen, von seinen Gefüh-
len
. Wer sich nur abhängig fühlt, der öffnet seinen Mund
nicht zum Gebete; das Abhängigkeitsgefühl nimmt ihm die
Lust, den Muth dazu; denn Abhängigkeitsgefühl ist Noth-
wendigkeitsgefühl. Das Gebet wurzelt vielmehr in dem
unbedingten, um alle Nothwendigkeit unbekümmerten Ver-
trauen der Subjectivität, daß ihre Angelegenheiten Gegen-
stand des absoluten Wesens sind, daß das allmächtige unend-
liche Wesen der Vater der Menschen, ein theilnehmendes,
gefühlvolles, liebendes Wesen
ist, daß also die dem
Menschen theuersten, heiligsten Empfindungen göttliche Reali-
täten sind. Das Kind fühlt sich aber nicht abhängig von
dem Vater als Vater; es hat vielmehr im Vater das Gefühl
seiner Stärke, das Bewußtsein seines Werths, die Bürgschaft
seines Daseins, die Gewißheit der Erfüllung seiner Wünsche;
auf dem Vater ruht die Last der Sorge; das Kind dagegen
lebt sorglos und glücklich im Vertrauen auf den Vater, seinen
lebendigen Schutzgeist, der nichts will, als des Kindes Wohl
und Glück. Der Vater macht das Kind zum Zweck, sich
selbst zum Mittel seiner Existenz. Das Kind, welches seinen
Vater um Etwas bittet, wendet sich nicht an ihn als ein von
ihm unterschiedenes, selbstständiges Wesen, als Herrn, als
Person überhaupt, sondern an ihn, wie und wiefern er ab-
hängig bestimmt ist
von seinen Vatergefühlen, von der

sius cor Divinum penetrat ... Negatur singularitati, quod
conceditur charitati. Sacra Hist
. de gentis hebr. ortu. P.
Pau I. Mezger. Aug. Vind. 1700. p. 668. 669
.
Feuerbach. 11

Die oberflächlichſte Anſicht vom Gebet iſt, wenn man in
ihm nur einen Ausdruck des Abhängigkeitsgefühles ſieht.
Allerdings drückt es ein ſolches aus, aber die Abhängigkeit
des Menſchen von ſeinem Herzen, von ſeinen Gefüh-
len
. Wer ſich nur abhängig fühlt, der öffnet ſeinen Mund
nicht zum Gebete; das Abhängigkeitsgefühl nimmt ihm die
Luſt, den Muth dazu; denn Abhängigkeitsgefühl iſt Noth-
wendigkeitsgefühl. Das Gebet wurzelt vielmehr in dem
unbedingten, um alle Nothwendigkeit unbekümmerten Ver-
trauen der Subjectivität, daß ihre Angelegenheiten Gegen-
ſtand des abſoluten Weſens ſind, daß das allmächtige unend-
liche Weſen der Vater der Menſchen, ein theilnehmendes,
gefühlvolles, liebendes Weſen
iſt, daß alſo die dem
Menſchen theuerſten, heiligſten Empfindungen göttliche Reali-
täten ſind. Das Kind fühlt ſich aber nicht abhängig von
dem Vater als Vater; es hat vielmehr im Vater das Gefühl
ſeiner Stärke, das Bewußtſein ſeines Werths, die Bürgſchaft
ſeines Daſeins, die Gewißheit der Erfüllung ſeiner Wünſche;
auf dem Vater ruht die Laſt der Sorge; das Kind dagegen
lebt ſorglos und glücklich im Vertrauen auf den Vater, ſeinen
lebendigen Schutzgeiſt, der nichts will, als des Kindes Wohl
und Glück. Der Vater macht das Kind zum Zweck, ſich
ſelbſt zum Mittel ſeiner Exiſtenz. Das Kind, welches ſeinen
Vater um Etwas bittet, wendet ſich nicht an ihn als ein von
ihm unterſchiedenes, ſelbſtſtändiges Weſen, als Herrn, als
Perſon überhaupt, ſondern an ihn, wie und wiefern er ab-
hängig beſtimmt iſt
von ſeinen Vatergefühlen, von der

sius cor Divinum penetrat … Negatur singularitati, quod
conceditur charitati. Sacra Hist
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[161/0179] Die oberflächlichſte Anſicht vom Gebet iſt, wenn man in ihm nur einen Ausdruck des Abhängigkeitsgefühles ſieht. Allerdings drückt es ein ſolches aus, aber die Abhängigkeit des Menſchen von ſeinem Herzen, von ſeinen Gefüh- len. Wer ſich nur abhängig fühlt, der öffnet ſeinen Mund nicht zum Gebete; das Abhängigkeitsgefühl nimmt ihm die Luſt, den Muth dazu; denn Abhängigkeitsgefühl iſt Noth- wendigkeitsgefühl. Das Gebet wurzelt vielmehr in dem unbedingten, um alle Nothwendigkeit unbekümmerten Ver- trauen der Subjectivität, daß ihre Angelegenheiten Gegen- ſtand des abſoluten Weſens ſind, daß das allmächtige unend- liche Weſen der Vater der Menſchen, ein theilnehmendes, gefühlvolles, liebendes Weſen iſt, daß alſo die dem Menſchen theuerſten, heiligſten Empfindungen göttliche Reali- täten ſind. Das Kind fühlt ſich aber nicht abhängig von dem Vater als Vater; es hat vielmehr im Vater das Gefühl ſeiner Stärke, das Bewußtſein ſeines Werths, die Bürgſchaft ſeines Daſeins, die Gewißheit der Erfüllung ſeiner Wünſche; auf dem Vater ruht die Laſt der Sorge; das Kind dagegen lebt ſorglos und glücklich im Vertrauen auf den Vater, ſeinen lebendigen Schutzgeiſt, der nichts will, als des Kindes Wohl und Glück. Der Vater macht das Kind zum Zweck, ſich ſelbſt zum Mittel ſeiner Exiſtenz. Das Kind, welches ſeinen Vater um Etwas bittet, wendet ſich nicht an ihn als ein von ihm unterſchiedenes, ſelbſtſtändiges Weſen, als Herrn, als Perſon überhaupt, ſondern an ihn, wie und wiefern er ab- hängig beſtimmt iſt von ſeinen Vatergefühlen, von der *) *) sius cor Divinum penetrat … Negatur singularitati, quod conceditur charitati. Sacra Hist. de gentis hebr. ortu. P. Pau I. Mezger. Aug. Vind. 1700. p. 668. 669. Feuerbach. 11

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/179>, abgerufen am 28.04.2024.