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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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Dasein der Idee gleich zu machen; denn die Grundgestalt
ist die Idee des Krystalls. Ein anderes populäres Beispiel.
Der Granit besteht aus Glimmer, Quarz und Feldspath.
Aber oft sind ihm noch andere Steinarten beigemengt. Hät-
ten wir nun keine andern Führer und Docenten als die
Sinne, so würden wir ohne Bedenken alle die Steine, die
wir nur immer im Granit finden, auch zu ihm rechnen; wir
würden zu Allem, was uns die Sinne vorsagten, Ja sagen
und so nie zum Begriffe des Granits kommen. Aber die
Vernunft sagt zu den leichtgläubigen Sinnen: Quod non.
Sie unterscheidet; sie sondert die wesentlichen von den zu-
fälligen
Bestandtheilen. Die Vernunft ist die Hebamme
der Natur; sie explicirt, sie läutert, sie corrigirt, sie be-
richtet
und ergänzt die Natur. Was nun das Wesentliche
vom Unwesentlichen, das Nothwendige vom Zufälligen, das
Eigne vom Fremden sondert, was das gewaltsam Getrennte
der Einheit und das gewaltsam Vereinte seiner Freiheit zurück-
gibt, ist das nicht göttlichen Wesens? solches Thun nicht das
Thun der höchsten, der göttlichen Liebe? nicht das Thun einer
erlösenden Macht? Und wie wäre es möglich, daß die Ver-
nunft das lautere Wesen der Dinge, den Originaltext der
Natur herstellte, wenn sie selbst nicht das lauterste, reinste,
originalste Wesen wäre? Aber die Vernunft hat keine Vor-
liebe für diese oder jene Gattung der Dinge. Sie umfaßt mit
gleichem Interesse das ganze Universum: sie interessirt sich für
alle Dinge und Wesen ohne Unterschied, ohne Aus-
nahme
-- sie würdigt den Wurm, den der menschliche Egois-
mus mit Füßen tritt, derselben Aufmerksamkeit, als den Men-
schen, als die Sonne am Firmament. Die Vernunft ist also
das allumfassende, das allbarmherzige Wesen, die
Liebe des Universums zu sich selbst. Nur der Vernunft
ist das große Werk der Auferstehung und Apokatastasis aller
Dinge und Wesen, der allgemeinen Erlösung und Versöhnung
aufgetragen. Auch nicht das vernunftlose Thier, auch nicht
die sprachlose Pflanze, auch nicht der gefühllose Stein soll von

Daſein der Idee gleich zu machen; denn die Grundgeſtalt
iſt die Idee des Kryſtalls. Ein anderes populäres Beiſpiel.
Der Granit beſteht aus Glimmer, Quarz und Feldſpath.
Aber oft ſind ihm noch andere Steinarten beigemengt. Hät-
ten wir nun keine andern Führer und Docenten als die
Sinne, ſo würden wir ohne Bedenken alle die Steine, die
wir nur immer im Granit finden, auch zu ihm rechnen; wir
würden zu Allem, was uns die Sinne vorſagten, Ja ſagen
und ſo nie zum Begriffe des Granits kommen. Aber die
Vernunft ſagt zu den leichtgläubigen Sinnen: Quod non.
Sie unterſcheidet; ſie ſondert die weſentlichen von den zu-
fälligen
Beſtandtheilen. Die Vernunft iſt die Hebamme
der Natur; ſie explicirt, ſie läutert, ſie corrigirt, ſie be-
richtet
und ergänzt die Natur. Was nun das Weſentliche
vom Unweſentlichen, das Nothwendige vom Zufälligen, das
Eigne vom Fremden ſondert, was das gewaltſam Getrennte
der Einheit und das gewaltſam Vereinte ſeiner Freiheit zurück-
gibt, iſt das nicht göttlichen Weſens? ſolches Thun nicht das
Thun der höchſten, der göttlichen Liebe? nicht das Thun einer
erlöſenden Macht? Und wie wäre es möglich, daß die Ver-
nunft das lautere Weſen der Dinge, den Originaltext der
Natur herſtellte, wenn ſie ſelbſt nicht das lauterſte, reinſte,
originalſte Weſen wäre? Aber die Vernunft hat keine Vor-
liebe für dieſe oder jene Gattung der Dinge. Sie umfaßt mit
gleichem Intereſſe das ganze Univerſum: ſie intereſſirt ſich für
alle Dinge und Weſen ohne Unterſchied, ohne Aus-
nahme
— ſie würdigt den Wurm, den der menſchliche Egois-
mus mit Füßen tritt, derſelben Aufmerkſamkeit, als den Men-
ſchen, als die Sonne am Firmament. Die Vernunft iſt alſo
das allumfaſſende, das allbarmherzige Weſen, die
Liebe des Univerſums zu ſich ſelbſt. Nur der Vernunft
iſt das große Werk der Auferſtehung und Apokataſtaſis aller
Dinge und Weſen, der allgemeinen Erlöſung und Verſöhnung
aufgetragen. Auch nicht das vernunftloſe Thier, auch nicht
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[384/0402] Daſein der Idee gleich zu machen; denn die Grundgeſtalt iſt die Idee des Kryſtalls. Ein anderes populäres Beiſpiel. Der Granit beſteht aus Glimmer, Quarz und Feldſpath. Aber oft ſind ihm noch andere Steinarten beigemengt. Hät- ten wir nun keine andern Führer und Docenten als die Sinne, ſo würden wir ohne Bedenken alle die Steine, die wir nur immer im Granit finden, auch zu ihm rechnen; wir würden zu Allem, was uns die Sinne vorſagten, Ja ſagen und ſo nie zum Begriffe des Granits kommen. Aber die Vernunft ſagt zu den leichtgläubigen Sinnen: Quod non. Sie unterſcheidet; ſie ſondert die weſentlichen von den zu- fälligen Beſtandtheilen. Die Vernunft iſt die Hebamme der Natur; ſie explicirt, ſie läutert, ſie corrigirt, ſie be- richtet und ergänzt die Natur. Was nun das Weſentliche vom Unweſentlichen, das Nothwendige vom Zufälligen, das Eigne vom Fremden ſondert, was das gewaltſam Getrennte der Einheit und das gewaltſam Vereinte ſeiner Freiheit zurück- gibt, iſt das nicht göttlichen Weſens? ſolches Thun nicht das Thun der höchſten, der göttlichen Liebe? nicht das Thun einer erlöſenden Macht? Und wie wäre es möglich, daß die Ver- nunft das lautere Weſen der Dinge, den Originaltext der Natur herſtellte, wenn ſie ſelbſt nicht das lauterſte, reinſte, originalſte Weſen wäre? Aber die Vernunft hat keine Vor- liebe für dieſe oder jene Gattung der Dinge. Sie umfaßt mit gleichem Intereſſe das ganze Univerſum: ſie intereſſirt ſich für alle Dinge und Weſen ohne Unterſchied, ohne Aus- nahme — ſie würdigt den Wurm, den der menſchliche Egois- mus mit Füßen tritt, derſelben Aufmerkſamkeit, als den Men- ſchen, als die Sonne am Firmament. Die Vernunft iſt alſo das allumfaſſende, das allbarmherzige Weſen, die Liebe des Univerſums zu ſich ſelbſt. Nur der Vernunft iſt das große Werk der Auferſtehung und Apokataſtaſis aller Dinge und Weſen, der allgemeinen Erlöſung und Verſöhnung aufgetragen. Auch nicht das vernunftloſe Thier, auch nicht die ſprachloſe Pflanze, auch nicht der gefühlloſe Stein ſoll von

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/402>, abgerufen am 30.04.2024.