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Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Berlin, 1808.

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versucht, um wieder hinein zu kommen
in die Behausung der Seuchen. Zwar ha¬
ben schon die belebenden Lüfte der andern
Welt, in die die abgeschiedene eingetreten,
sie aufgenommen in sich, und umgeben sie
mit warmem Liebeshauche, zwar begrüßen
sie schon freudig heimliche Stimmen der Schwe¬
stern, und heißen sie willkommen, zwar regt
es sich schon und dehnt sich in ihrem Innern
nach allen Richtungen hin, um die herrlichere
Gestalt, zu der sie erwachsen soll, zu entwik¬
keln; aber noch hat sie kein Gefühl für diese
Lüste, oder Gehör für diese Stimmen, oder
wenn sie es hätte, so ist sie aufgegangen in
Schmerz über ihren Verlust, mit welchem sie
zugleich sich selbst verloren zu haben glaubt.
Was ist mit ihr zu thun? Auch die Morgen¬
röthe der neuen Welt ist schon angebrochen,
und vergoldet schon die Spitzen der Berge,
und bildet vor den Tag, der da kommen
soll. Ich will, so ich es kann, die Strahlen
dieser Morgenröthe fassen, und sie verdichten
zu einem Spiegel, in welchem die trostlose
Zeit sich erblicke, damit sie glaube, daß sie noch

verſucht, um wieder hinein zu kommen
in die Behauſung der Seuchen. Zwar ha¬
ben ſchon die belebenden Luͤfte der andern
Welt, in die die abgeſchiedene eingetreten,
ſie aufgenommen in ſich, und umgeben ſie
mit warmem Liebeshauche, zwar begruͤßen
ſie ſchon freudig heimliche Stimmen der Schwe¬
ſtern, und heißen ſie willkommen, zwar regt
es ſich ſchon und dehnt ſich in ihrem Innern
nach allen Richtungen hin, um die herrlichere
Geſtalt, zu der ſie erwachſen ſoll, zu entwik¬
keln; aber noch hat ſie kein Gefuͤhl fuͤr dieſe
Luͤſte, oder Gehoͤr fuͤr dieſe Stimmen, oder
wenn ſie es haͤtte, ſo iſt ſie aufgegangen in
Schmerz uͤber ihren Verluſt, mit welchem ſie
zugleich ſich ſelbſt verloren zu haben glaubt.
Was iſt mit ihr zu thun? Auch die Morgen¬
roͤthe der neuen Welt iſt ſchon angebrochen,
und vergoldet ſchon die Spitzen der Berge,
und bildet vor den Tag, der da kommen
ſoll. Ich will, ſo ich es kann, die Strahlen
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[47/0053] verſucht, um wieder hinein zu kommen in die Behauſung der Seuchen. Zwar ha¬ ben ſchon die belebenden Luͤfte der andern Welt, in die die abgeſchiedene eingetreten, ſie aufgenommen in ſich, und umgeben ſie mit warmem Liebeshauche, zwar begruͤßen ſie ſchon freudig heimliche Stimmen der Schwe¬ ſtern, und heißen ſie willkommen, zwar regt es ſich ſchon und dehnt ſich in ihrem Innern nach allen Richtungen hin, um die herrlichere Geſtalt, zu der ſie erwachſen ſoll, zu entwik¬ keln; aber noch hat ſie kein Gefuͤhl fuͤr dieſe Luͤſte, oder Gehoͤr fuͤr dieſe Stimmen, oder wenn ſie es haͤtte, ſo iſt ſie aufgegangen in Schmerz uͤber ihren Verluſt, mit welchem ſie zugleich ſich ſelbſt verloren zu haben glaubt. Was iſt mit ihr zu thun? Auch die Morgen¬ roͤthe der neuen Welt iſt ſchon angebrochen, und vergoldet ſchon die Spitzen der Berge, und bildet vor den Tag, der da kommen ſoll. Ich will, ſo ich es kann, die Strahlen dieſer Morgenroͤthe faſſen, und ſie verdichten zu einem Spiegel, in welchem die troſtloſe Zeit ſich erblicke, damit ſie glaube, daß ſie noch

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Zitationshilfe: Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Berlin, 1808, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808/53>, abgerufen am 29.04.2024.