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Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794.

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Elephanten, dieser auf einer Schildkröte, dieser -- wer
weiss es, auf was, und so ins unendliche fort. --
Wenn es mit unserm Wissen einmal so beschaffen ist,
so können wir es freilich nicht ändern, aber wir ha-
ben dann auch kein festes Wissen: wir sind vielleicht
bis auf ein gewisses Glied in der Reihe zurückgegan-
gen, und bis auf dieses haben wir alles fest gefunden;
aber wer kann uns dafür einstehen, dass wir nicht,
wenn wir etwa noch tiefer gehen sollten, den Ungrund
desselben finden, und es werden aufgeben müssen?
Unsre Gewissheit ist erbeten, und wir können ihrer
nie auf den folgenden Tag sicher seyn.

Oder -- der zweite Fall -- unser Wissen besteht
aus endlichen Reihen, aber aus mehrern. Jede Reihe
schliesst sich in einem Grundsatze, der durch keinen
andern, sondern bloss durch sich selbst begründet wird;
aber es giebt solcher Grundsätze mehrere, welche, da
sie sich alle, und schlechthin unabhängig von allen übri-
gen begründen, keinen Zusammenhang unter sich
haben, sondern völlig isolirt sind. Es giebt etwa meh-
rere angebohrne Wahrheiten in uns, die alle gleich
angebohren sind, und in deren Zusammenhang wir
keine weitere Einsicht erwarten können, da derselbe
über die angebohrnen Wahrheiten hinaus liegt; oder
es giebt ein mannigfaltiges Einfaches in den Dingen
ausser uns, das uns durch den Eindruck, den sie auf
uns machen, mitgetheilt wird, in dessen Zusammen-
hang wir aber nicht eindringen können, da es über
das Einfachste im Eindrucke kein noch einfacheres ge-
ben kann. -- Wenn es sich so verhält; wenn das
menschliche Wissen an sich, und seiner Natur nach

solches

Elephanten, dieſer auf einer Schildkröte, dieſer — wer
weiſs es, auf was, und ſo ins unendliche fort. —
Wenn es mit unſerm Wiſſen einmal ſo beſchaffen iſt,
ſo können wir es freilich nicht ändern, aber wir ha-
ben dann auch kein feſtes Wiſſen: wir ſind vielleicht
bis auf ein gewiſſes Glied in der Reihe zurückgegan-
gen, und bis auf dieſes haben wir alles feſt gefunden;
aber wer kann uns dafür einſtehen, daſs wir nicht,
wenn wir etwa noch tiefer gehen ſollten, den Ungrund
deſſelben finden, und es werden aufgeben müſſen?
Unſre Gewiſsheit iſt erbeten, und wir können ihrer
nie auf den folgenden Tag ſicher ſeyn.

Oder — der zweite Fall — unſer Wiſſen beſteht
aus endlichen Reihen, aber aus mehrern. Jede Reihe
ſchlieſst ſich in einem Grundſatze, der durch keinen
andern, ſondern bloſs durch ſich ſelbſt begründet wird;
aber es giebt ſolcher Grundſätze mehrere, welche, da
ſie ſich alle, und ſchlechthin unabhängig von allen übri-
gen begründen, keinen Zuſammenhang unter ſich
haben, ſondern völlig iſolirt ſind. Es giebt etwa meh-
rere angebohrne Wahrheiten in uns, die alle gleich
angebohren ſind, und in deren Zuſammenhang wir
keine weitere Einſicht erwarten können, da derſelbe
über die angebohrnen Wahrheiten hinaus liegt; oder
es giebt ein mannigfaltiges Einfaches in den Dingen
auſſer uns, das uns durch den Eindruck, den ſie auf
uns machen, mitgetheilt wird, in deſſen Zuſammen-
hang wir aber nicht eindringen können, da es über
das Einfachſte im Eindrucke kein noch einfacheres ge-
ben kann. — Wenn es ſich ſo verhält; wenn das
menſchliche Wiſſen an ſich, und ſeiner Natur nach

ſolches
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[27/0035] Elephanten, dieſer auf einer Schildkröte, dieſer — wer weiſs es, auf was, und ſo ins unendliche fort. — Wenn es mit unſerm Wiſſen einmal ſo beſchaffen iſt, ſo können wir es freilich nicht ändern, aber wir ha- ben dann auch kein feſtes Wiſſen: wir ſind vielleicht bis auf ein gewiſſes Glied in der Reihe zurückgegan- gen, und bis auf dieſes haben wir alles feſt gefunden; aber wer kann uns dafür einſtehen, daſs wir nicht, wenn wir etwa noch tiefer gehen ſollten, den Ungrund deſſelben finden, und es werden aufgeben müſſen? Unſre Gewiſsheit iſt erbeten, und wir können ihrer nie auf den folgenden Tag ſicher ſeyn. Oder — der zweite Fall — unſer Wiſſen beſteht aus endlichen Reihen, aber aus mehrern. Jede Reihe ſchlieſst ſich in einem Grundſatze, der durch keinen andern, ſondern bloſs durch ſich ſelbſt begründet wird; aber es giebt ſolcher Grundſätze mehrere, welche, da ſie ſich alle, und ſchlechthin unabhängig von allen übri- gen begründen, keinen Zuſammenhang unter ſich haben, ſondern völlig iſolirt ſind. Es giebt etwa meh- rere angebohrne Wahrheiten in uns, die alle gleich angebohren ſind, und in deren Zuſammenhang wir keine weitere Einſicht erwarten können, da derſelbe über die angebohrnen Wahrheiten hinaus liegt; oder es giebt ein mannigfaltiges Einfaches in den Dingen auſſer uns, das uns durch den Eindruck, den ſie auf uns machen, mitgetheilt wird, in deſſen Zuſammen- hang wir aber nicht eindringen können, da es über das Einfachſte im Eindrucke kein noch einfacheres ge- ben kann. — Wenn es ſich ſo verhält; wenn das menſchliche Wiſſen an ſich, und ſeiner Natur nach ſolches

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Zitationshilfe: Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_wissenschaftslehre_1794/35>, abgerufen am 27.04.2024.