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Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794.

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Soll aber nicht etwa bloss ein oder mehrere Frag-
mente eines Systems, wie im ersten Falle, oder meh-
rere Systeme wie im zweiten, sondern soll ein vollen-
detes und Einiges System im menschlichen Geiste seyn,
so muss es einen solchen höchsten und absolut-ersten
Grundsatz geben. Verbreite von ihm aus sich unser
Wissen in noch so viele Reihen, von deren jeder wie-
der Reihen u. s. f. ausgehen, so müssen doch alle in
einem einzigen Ringe festhangen, der an nichts befe-
stiget ist, sondern durch seine eigne Kraft sich, und
das ganze System hält. -- Wir haben nun, einen
durch seine eigene Schwerkraft sich haltenden Erdball,
dessen Mittelpunkt alles, was wir nun wirklich auf dem
Umkreise desselben, und nicht etwa in die Luft, und
nur perpendikular, und nicht etwa schiefwinklicht an-
gebaut haben, allmächtig anzieht, und kein Stäubchen
aus seiner Sphäre sich entreissen lässt.

Ob es ein solches System, und, -- was die Be-
dingung desselben ist, -- einen solchen Grundsatz gebe,
darüber können wir vor der Untersuchung vorher nichts
entscheiden. Der Grundsatz lässt sich nicht nur als
blosser Satz, er lässt sich auch als Grundsatz alles Wis-
sens nicht erweisen. Es kommt auf den Versuch an.
Finden wir einen Satz, der die innern Bedingungen
des Grundsatzes alles menschlichen Wissens hat, so ver-
suchen wir, ob er auch die äussern habe; ob alles, was
wir wissen, oder zu wissen glauben, auf ihn sich zu-
rückführen lasse. Gelingt es uns, so haben wir durch
die wirkliche Aufstellung der Wissenschaft bewiesen,
dass sie möglich war, und dass es ein System des mensch-
lichen Wissens gebe, dessen Darstellung sie ist. Gelingt

es

Soll aber nicht etwa bloſs ein oder mehrere Frag-
mente eines Syſtems, wie im erſten Falle, oder meh-
rere Syſteme wie im zweiten, ſondern ſoll ein vollen-
detes und Einiges Syſtem im menſchlichen Geiſte ſeyn,
ſo muſs es einen ſolchen höchſten und abſolut-erſten
Grundſatz geben. Verbreite von ihm aus ſich unſer
Wiſſen in noch ſo viele Reihen, von deren jeder wie-
der Reihen u. ſ. f. ausgehen, ſo müſſen doch alle in
einem einzigen Ringe feſthangen, der an nichts befe-
ſtiget iſt, ſondern durch ſeine eigne Kraft ſich, und
das ganze Syſtem hält. — Wir haben nun, einen
durch ſeine eigene Schwerkraft ſich haltenden Erdball,
deſſen Mittelpunkt alles, was wir nun wirklich auf dem
Umkreiſe deſſelben, und nicht etwa in die Luft, und
nur perpendikular, und nicht etwa ſchiefwinklicht an-
gebaut haben, allmächtig anzieht, und kein Stäubchen
aus ſeiner Sphäre ſich entreiſſen läſst.

Ob es ein ſolches Syſtem, und, — was die Be-
dingung deſſelben iſt, — einen ſolchen Grundſatz gebe,
darüber können wir vor der Unterſuchung vorher nichts
entſcheiden. Der Grundſatz läſst ſich nicht nur als
bloſser Satz, er läſst ſich auch als Grundſatz alles Wiſ-
ſens nicht erweiſen. Es kommt auf den Verſuch an.
Finden wir einen Satz, der die innern Bedingungen
des Grundſatzes alles menſchlichen Wiſſens hat, ſo ver-
ſuchen wir, ob er auch die äuſſern habe; ob alles, was
wir wiſſen, oder zu wiſſen glauben, auf ihn ſich zu-
rückführen laſſe. Gelingt es uns, ſo haben wir durch
die wirkliche Aufſtellung der Wiſſenſchaft bewieſen,
daſs ſie möglich war, und daſs es ein Syſtem des menſch-
lichen Wiſſens gebe, deſſen Darſtellung ſie iſt. Gelingt

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[29/0037] Soll aber nicht etwa bloſs ein oder mehrere Frag- mente eines Syſtems, wie im erſten Falle, oder meh- rere Syſteme wie im zweiten, ſondern ſoll ein vollen- detes und Einiges Syſtem im menſchlichen Geiſte ſeyn, ſo muſs es einen ſolchen höchſten und abſolut-erſten Grundſatz geben. Verbreite von ihm aus ſich unſer Wiſſen in noch ſo viele Reihen, von deren jeder wie- der Reihen u. ſ. f. ausgehen, ſo müſſen doch alle in einem einzigen Ringe feſthangen, der an nichts befe- ſtiget iſt, ſondern durch ſeine eigne Kraft ſich, und das ganze Syſtem hält. — Wir haben nun, einen durch ſeine eigene Schwerkraft ſich haltenden Erdball, deſſen Mittelpunkt alles, was wir nun wirklich auf dem Umkreiſe deſſelben, und nicht etwa in die Luft, und nur perpendikular, und nicht etwa ſchiefwinklicht an- gebaut haben, allmächtig anzieht, und kein Stäubchen aus ſeiner Sphäre ſich entreiſſen läſst. Ob es ein ſolches Syſtem, und, — was die Be- dingung deſſelben iſt, — einen ſolchen Grundſatz gebe, darüber können wir vor der Unterſuchung vorher nichts entſcheiden. Der Grundſatz läſst ſich nicht nur als bloſser Satz, er läſst ſich auch als Grundſatz alles Wiſ- ſens nicht erweiſen. Es kommt auf den Verſuch an. Finden wir einen Satz, der die innern Bedingungen des Grundſatzes alles menſchlichen Wiſſens hat, ſo ver- ſuchen wir, ob er auch die äuſſern habe; ob alles, was wir wiſſen, oder zu wiſſen glauben, auf ihn ſich zu- rückführen laſſe. Gelingt es uns, ſo haben wir durch die wirkliche Aufſtellung der Wiſſenſchaft bewieſen, daſs ſie möglich war, und daſs es ein Syſtem des menſch- lichen Wiſſens gebe, deſſen Darſtellung ſie iſt. Gelingt es

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Zitationshilfe: Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_wissenschaftslehre_1794/37>, abgerufen am 27.04.2024.