Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

an eine bestimmte Form gebunden ist, sondern sich in jener
willkürlichen und beständig wechselnden Concurrenz seiner
verschiedenen sinnlichen Qualitäten erschöpft.

Wie es nun aber um die Gestaltung eines sinnlich
Vorhandenen nach den einzelnen Seiten seiner sinnlichen
Beschaffenheit bestellt ist, das werden wir am besten er¬
kennen, wenn wir eine bestimmte Seite dieser Beschaffen¬
heit, die Sichtbarkeit, ins Auge fassen. Wir kommen hier
auf das eigentliche Thema der vorliegenden Untersuchungen.
Hatte es sich in dem Vorhergehenden um das Eingeständ¬
niß gehandelt, daß wir in einer Täuschung leben, solange
wir meinen, ein Sinnlich-Wirkliches als ein Sinnlich-
Vollständiges in irgend einem Gebilde unseres Bewußtseins
besitzen zu können: so handelt es sich nun um den Nach¬
weis, daß auch ein sichtbarer Gegenstand eben dieser seiner
Sichtbarkeit nach uns als ein zu endgültiger Entwickelung
gelangtes Gesichtsbild so ohne weiteres nicht angehören
könne. Und daraus wird sich, wie wir sehen werden, die
natürliche Folgerung ergeben, daß der Mensch eine Ent¬
wickelung seiner Gesichtsbilder zu höheren Graden des
Vorhandenseins nur einer Thätigkeit verdanken könne, durch
welche sichtbar nachweisbare Gebilde hervorgebracht werden,
und daß diese Thätigkeit keine andere als die künstlerische sei.

Zwar wissen wir, daß im gewöhnlichen Leben und
bei vielen Beschäftigungen, wo sich die Aufmerksamkeit auf
das Aussehen der Dinge nach dem Bedürfniß richtet, dieses
Gesichtsbild deshalb ein mangelhaftes, oberflächliches, un¬
entwickeltes bleibt, weil damit dem Bedürfniß vollständig

an eine beſtimmte Form gebunden iſt, ſondern ſich in jener
willkürlichen und beſtändig wechſelnden Concurrenz ſeiner
verſchiedenen ſinnlichen Qualitäten erſchöpft.

Wie es nun aber um die Geſtaltung eines ſinnlich
Vorhandenen nach den einzelnen Seiten ſeiner ſinnlichen
Beſchaffenheit beſtellt iſt, das werden wir am beſten er¬
kennen, wenn wir eine beſtimmte Seite dieſer Beſchaffen¬
heit, die Sichtbarkeit, ins Auge faſſen. Wir kommen hier
auf das eigentliche Thema der vorliegenden Unterſuchungen.
Hatte es ſich in dem Vorhergehenden um das Eingeſtänd¬
niß gehandelt, daß wir in einer Täuſchung leben, ſolange
wir meinen, ein Sinnlich-Wirkliches als ein Sinnlich-
Vollſtändiges in irgend einem Gebilde unſeres Bewußtſeins
beſitzen zu können: ſo handelt es ſich nun um den Nach¬
weis, daß auch ein ſichtbarer Gegenſtand eben dieſer ſeiner
Sichtbarkeit nach uns als ein zu endgültiger Entwickelung
gelangtes Geſichtsbild ſo ohne weiteres nicht angehören
könne. Und daraus wird ſich, wie wir ſehen werden, die
natürliche Folgerung ergeben, daß der Menſch eine Ent¬
wickelung ſeiner Geſichtsbilder zu höheren Graden des
Vorhandenſeins nur einer Thätigkeit verdanken könne, durch
welche ſichtbar nachweisbare Gebilde hervorgebracht werden,
und daß dieſe Thätigkeit keine andere als die künſtleriſche ſei.

Zwar wiſſen wir, daß im gewöhnlichen Leben und
bei vielen Beſchäftigungen, wo ſich die Aufmerkſamkeit auf
das Ausſehen der Dinge nach dem Bedürfniß richtet, dieſes
Geſichtsbild deshalb ein mangelhaftes, oberflächliches, un¬
entwickeltes bleibt, weil damit dem Bedürfniß vollſtändig

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0067" n="&#x2014;55"/>
an eine be&#x017F;timmte Form gebunden i&#x017F;t, &#x017F;ondern &#x017F;ich in jener<lb/>
willkürlichen und be&#x017F;tändig wech&#x017F;elnden Concurrenz &#x017F;einer<lb/>
ver&#x017F;chiedenen &#x017F;innlichen Qualitäten er&#x017F;chöpft.</p><lb/>
        <p>Wie es nun aber um die Ge&#x017F;taltung eines &#x017F;innlich<lb/>
Vorhandenen nach den einzelnen Seiten &#x017F;einer &#x017F;innlichen<lb/>
Be&#x017F;chaffenheit be&#x017F;tellt i&#x017F;t, das werden wir am be&#x017F;ten er¬<lb/>
kennen, wenn wir eine be&#x017F;timmte Seite die&#x017F;er Be&#x017F;chaffen¬<lb/>
heit, die Sichtbarkeit, ins Auge fa&#x017F;&#x017F;en. Wir kommen hier<lb/>
auf das eigentliche Thema der vorliegenden Unter&#x017F;uchungen.<lb/>
Hatte es &#x017F;ich in dem Vorhergehenden um das Einge&#x017F;tänd¬<lb/>
niß gehandelt, daß wir in einer Täu&#x017F;chung leben, &#x017F;olange<lb/>
wir meinen, ein Sinnlich-Wirkliches als ein Sinnlich-<lb/>
Voll&#x017F;tändiges in irgend einem Gebilde un&#x017F;eres Bewußt&#x017F;eins<lb/>
be&#x017F;itzen zu können: &#x017F;o handelt es &#x017F;ich nun um den Nach¬<lb/>
weis, daß auch ein &#x017F;ichtbarer Gegen&#x017F;tand eben die&#x017F;er &#x017F;einer<lb/>
Sichtbarkeit nach uns als ein zu endgültiger Entwickelung<lb/>
gelangtes Ge&#x017F;ichtsbild &#x017F;o ohne weiteres nicht angehören<lb/>
könne. Und daraus wird &#x017F;ich, wie wir &#x017F;ehen werden, die<lb/>
natürliche Folgerung ergeben, daß der Men&#x017F;ch eine Ent¬<lb/>
wickelung &#x017F;einer Ge&#x017F;ichtsbilder zu höheren Graden des<lb/>
Vorhanden&#x017F;eins nur einer Thätigkeit verdanken könne, durch<lb/>
welche &#x017F;ichtbar nachweisbare Gebilde hervorgebracht werden,<lb/>
und daß die&#x017F;e Thätigkeit keine andere als die kün&#x017F;tleri&#x017F;che &#x017F;ei.</p><lb/>
        <p>Zwar wi&#x017F;&#x017F;en wir, daß im gewöhnlichen Leben und<lb/>
bei vielen Be&#x017F;chäftigungen, wo &#x017F;ich die Aufmerk&#x017F;amkeit auf<lb/>
das Aus&#x017F;ehen der Dinge nach dem Bedürfniß richtet, die&#x017F;es<lb/>
Ge&#x017F;ichtsbild deshalb ein mangelhaftes, oberflächliches, un¬<lb/>
entwickeltes bleibt, weil damit dem Bedürfniß voll&#x017F;tändig<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[—55/0067] an eine beſtimmte Form gebunden iſt, ſondern ſich in jener willkürlichen und beſtändig wechſelnden Concurrenz ſeiner verſchiedenen ſinnlichen Qualitäten erſchöpft. Wie es nun aber um die Geſtaltung eines ſinnlich Vorhandenen nach den einzelnen Seiten ſeiner ſinnlichen Beſchaffenheit beſtellt iſt, das werden wir am beſten er¬ kennen, wenn wir eine beſtimmte Seite dieſer Beſchaffen¬ heit, die Sichtbarkeit, ins Auge faſſen. Wir kommen hier auf das eigentliche Thema der vorliegenden Unterſuchungen. Hatte es ſich in dem Vorhergehenden um das Eingeſtänd¬ niß gehandelt, daß wir in einer Täuſchung leben, ſolange wir meinen, ein Sinnlich-Wirkliches als ein Sinnlich- Vollſtändiges in irgend einem Gebilde unſeres Bewußtſeins beſitzen zu können: ſo handelt es ſich nun um den Nach¬ weis, daß auch ein ſichtbarer Gegenſtand eben dieſer ſeiner Sichtbarkeit nach uns als ein zu endgültiger Entwickelung gelangtes Geſichtsbild ſo ohne weiteres nicht angehören könne. Und daraus wird ſich, wie wir ſehen werden, die natürliche Folgerung ergeben, daß der Menſch eine Ent¬ wickelung ſeiner Geſichtsbilder zu höheren Graden des Vorhandenſeins nur einer Thätigkeit verdanken könne, durch welche ſichtbar nachweisbare Gebilde hervorgebracht werden, und daß dieſe Thätigkeit keine andere als die künſtleriſche ſei. Zwar wiſſen wir, daß im gewöhnlichen Leben und bei vielen Beſchäftigungen, wo ſich die Aufmerkſamkeit auf das Ausſehen der Dinge nach dem Bedürfniß richtet, dieſes Geſichtsbild deshalb ein mangelhaftes, oberflächliches, un¬ entwickeltes bleibt, weil damit dem Bedürfniß vollſtändig

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/67
Zitationshilfe: Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. —55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/67>, abgerufen am 30.04.2024.