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Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887.

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hervorbringt, was wiederum nur von dem Gesichtssinn
wahrgenommen werden kann, ist ein ganz anderer, tieferer
und weittragenderer, als der einer müßigen und unvoll¬
kommenen Nachahmung von etwas bereits Vorhandenem.
Selbst in der den Augenblick ihrer Entstehung nicht über¬
lebenden Geberde, in den elementarsten Versuchen einer
bildnerisch darstellenden Thätigkeit thut die Hand nicht
etwas, was das Auge schon gethan hätte; es entsteht viel¬
mehr etwas Neues, und die Hand nimmt die Weiterent¬
wickelung dessen, was das Auge thut, gerade an dem Punkte
auf und führt sie fort, wo das Auge selbst am Ende seines
Thuns angelangt ist. Wären dem Menschen jene Ausdrucks¬
mittel für das, was ihm durch den Gesichtssinn als ein
Sichtbares erscheint, nicht gegeben, so würde er freilich
nicht auf den Gedanken kommen können, daß an der Ent¬
wickelung der Vorstellungen des Gesichtssinnes noch andere
Organe seines Körpers betheiligt sein könnten, als das
Auge. Indem er aber auch nur eine Linie zieht, ja indem
er nur eine Geberde macht, die etwas darstellen soll, was
das Auge wahrgenommen hat, wird er, wenn er sichs
recht überlegt, einsehen, daß er damit für seine Gesichts¬
vorstellung etwas thut, wozu das Auge, das spezielle Organ
des Gesichtssinns, aus eigener Kraft unvermögend ist. Die
Leistung der Hand mag ihm im Vergleich zu der wunder¬
baren Leistung des Auges mangelhaft erscheinen; und
doch, sobald er bedenkt, daß das Auge das, was es im
zartesten, vergänglichsten Empfindungsstoff jeden Augen¬
blick neu hervorzaubert, nicht zu einem realisirten Besitz

hervorbringt, was wiederum nur von dem Geſichtsſinn
wahrgenommen werden kann, iſt ein ganz anderer, tieferer
und weittragenderer, als der einer müßigen und unvoll¬
kommenen Nachahmung von etwas bereits Vorhandenem.
Selbſt in der den Augenblick ihrer Entſtehung nicht über¬
lebenden Geberde, in den elementarſten Verſuchen einer
bildneriſch darſtellenden Thätigkeit thut die Hand nicht
etwas, was das Auge ſchon gethan hätte; es entſteht viel¬
mehr etwas Neues, und die Hand nimmt die Weiterent¬
wickelung deſſen, was das Auge thut, gerade an dem Punkte
auf und führt ſie fort, wo das Auge ſelbſt am Ende ſeines
Thuns angelangt iſt. Wären dem Menſchen jene Ausdrucks¬
mittel für das, was ihm durch den Geſichtsſinn als ein
Sichtbares erſcheint, nicht gegeben, ſo würde er freilich
nicht auf den Gedanken kommen können, daß an der Ent¬
wickelung der Vorſtellungen des Geſichtsſinnes noch andere
Organe ſeines Körpers betheiligt ſein könnten, als das
Auge. Indem er aber auch nur eine Linie zieht, ja indem
er nur eine Geberde macht, die etwas darſtellen ſoll, was
das Auge wahrgenommen hat, wird er, wenn er ſichs
recht überlegt, einſehen, daß er damit für ſeine Geſichts¬
vorſtellung etwas thut, wozu das Auge, das ſpezielle Organ
des Geſichtsſinns, aus eigener Kraft unvermögend iſt. Die
Leiſtung der Hand mag ihm im Vergleich zu der wunder¬
baren Leiſtung des Auges mangelhaft erſcheinen; und
doch, ſobald er bedenkt, daß das Auge das, was es im
zarteſten, vergänglichſten Empfindungsſtoff jeden Augen¬
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[87/0099] hervorbringt, was wiederum nur von dem Geſichtsſinn wahrgenommen werden kann, iſt ein ganz anderer, tieferer und weittragenderer, als der einer müßigen und unvoll¬ kommenen Nachahmung von etwas bereits Vorhandenem. Selbſt in der den Augenblick ihrer Entſtehung nicht über¬ lebenden Geberde, in den elementarſten Verſuchen einer bildneriſch darſtellenden Thätigkeit thut die Hand nicht etwas, was das Auge ſchon gethan hätte; es entſteht viel¬ mehr etwas Neues, und die Hand nimmt die Weiterent¬ wickelung deſſen, was das Auge thut, gerade an dem Punkte auf und führt ſie fort, wo das Auge ſelbſt am Ende ſeines Thuns angelangt iſt. Wären dem Menſchen jene Ausdrucks¬ mittel für das, was ihm durch den Geſichtsſinn als ein Sichtbares erſcheint, nicht gegeben, ſo würde er freilich nicht auf den Gedanken kommen können, daß an der Ent¬ wickelung der Vorſtellungen des Geſichtsſinnes noch andere Organe ſeines Körpers betheiligt ſein könnten, als das Auge. Indem er aber auch nur eine Linie zieht, ja indem er nur eine Geberde macht, die etwas darſtellen ſoll, was das Auge wahrgenommen hat, wird er, wenn er ſichs recht überlegt, einſehen, daß er damit für ſeine Geſichts¬ vorſtellung etwas thut, wozu das Auge, das ſpezielle Organ des Geſichtsſinns, aus eigener Kraft unvermögend iſt. Die Leiſtung der Hand mag ihm im Vergleich zu der wunder¬ baren Leiſtung des Auges mangelhaft erſcheinen; und doch, ſobald er bedenkt, daß das Auge das, was es im zarteſten, vergänglichſten Empfindungsſtoff jeden Augen¬ blick neu hervorzaubert, nicht zu einem realiſirten Beſitz

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Zitationshilfe: Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/99>, abgerufen am 30.04.2024.