Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

ter drein bis dicht in ihre Nähe geschlichen, und jetzt
von einer Gruppe mitleidiger oder neugieriger Gäste
umringt worden war. "Wie heißt Du?" fragte eine
Dame. "Hardine," murmelte die Kleine. Es folgte
noch eine weitere Examination, auf welche sie mit stumpf¬
sinniger Gleichgültigkeit den Kopf schüttelte. Endlich:
"Was wollt Ihr, wen sucht Ihr hier?"

"Meine Großmutter Hardine," sagte das Kind.

Auch das hörte das stolze Fräulein mit an; sie
sah die verblüfften Mienen der hohen Gesellschaft und
-- sie schwieg. Sie schien wie erstarrt oder in ferne
Erinnerungen verloren.

"Schweig, Hardine!" herrschte jetzt der Invalid
seine Tochter an, indem er sie mit Gewalt aus der
Gruppe zog. "Schweig und komm! Gott ist ein Va¬
ter der Waisen. Es wird anderwärts barmherzigere
Seelen geben."

Damit wendete er sich zum Gehen. Nach ein
Paar Schritten aber sah man einen bleifarbenen
Schatten über seine Züge fliegen. Er schauderte zu¬
sammen und klammerte sich zitternd an das Lauben¬
gitter. Auf einen Wink des Fräuleins eilte der Pre¬
diger ihm zu Hülfe; sein Sohn, der uns schon be¬
kannte Gymnasiast, sprang zwischen den Hecken her¬

ter drein bis dicht in ihre Nähe geſchlichen, und jetzt
von einer Gruppe mitleidiger oder neugieriger Gäſte
umringt worden war. „Wie heißt Du?“ fragte eine
Dame. „Hardine,“ murmelte die Kleine. Es folgte
noch eine weitere Examination, auf welche ſie mit ſtumpf¬
ſinniger Gleichgültigkeit den Kopf ſchüttelte. Endlich:
„Was wollt Ihr, wen ſucht Ihr hier?“

„Meine Großmutter Hardine,“ ſagte das Kind.

Auch das hörte das ſtolze Fräulein mit an; ſie
ſah die verblüfften Mienen der hohen Geſellſchaft und
— ſie ſchwieg. Sie ſchien wie erſtarrt oder in ferne
Erinnerungen verloren.

„Schweig, Hardine!“ herrſchte jetzt der Invalid
ſeine Tochter an, indem er ſie mit Gewalt aus der
Gruppe zog. „Schweig und komm! Gott iſt ein Va¬
ter der Waiſen. Es wird anderwärts barmherzigere
Seelen geben.“

Damit wendete er ſich zum Gehen. Nach ein
Paar Schritten aber ſah man einen bleifarbenen
Schatten über ſeine Züge fliegen. Er ſchauderte zu¬
ſammen und klammerte ſich zitternd an das Lauben¬
gitter. Auf einen Wink des Fräuleins eilte der Pre¬
diger ihm zu Hülfe; ſein Sohn, der uns ſchon be¬
kannte Gymnaſiaſt, ſprang zwiſchen den Hecken her¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0084" n="77"/>
ter drein bis dicht in ihre Nähe ge&#x017F;chlichen, und jetzt<lb/>
von einer Gruppe mitleidiger oder neugieriger Gä&#x017F;te<lb/>
umringt worden war. &#x201E;Wie heißt Du?&#x201C; fragte eine<lb/>
Dame. &#x201E;Hardine,&#x201C; murmelte die Kleine. Es folgte<lb/>
noch eine weitere Examination, auf welche &#x017F;ie mit &#x017F;tumpf¬<lb/>
&#x017F;inniger Gleichgültigkeit den Kopf &#x017F;chüttelte. Endlich:<lb/>
&#x201E;Was wollt Ihr, wen &#x017F;ucht Ihr hier?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Meine Großmutter Hardine,&#x201C; &#x017F;agte das Kind.</p><lb/>
        <p>Auch <hi rendition="#g">das</hi> hörte das &#x017F;tolze Fräulein mit an; &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ah die verblüfften Mienen der hohen Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft und<lb/>
&#x2014; &#x017F;ie &#x017F;chwieg. Sie &#x017F;chien wie er&#x017F;tarrt oder in ferne<lb/>
Erinnerungen verloren.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Schweig, Hardine!&#x201C; herr&#x017F;chte jetzt der Invalid<lb/>
&#x017F;eine Tochter an, indem er &#x017F;ie mit Gewalt aus der<lb/>
Gruppe zog. &#x201E;Schweig und komm! Gott i&#x017F;t ein Va¬<lb/>
ter der Wai&#x017F;en. Es wird anderwärts barmherzigere<lb/>
Seelen geben.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Damit wendete er &#x017F;ich zum Gehen. Nach ein<lb/>
Paar Schritten aber &#x017F;ah man einen bleifarbenen<lb/>
Schatten über &#x017F;eine Züge fliegen. Er &#x017F;chauderte zu¬<lb/>
&#x017F;ammen und klammerte &#x017F;ich zitternd an das Lauben¬<lb/>
gitter. Auf einen Wink des Fräuleins eilte der Pre¬<lb/>
diger ihm zu Hülfe; &#x017F;ein Sohn, der uns &#x017F;chon be¬<lb/>
kannte Gymna&#x017F;ia&#x017F;t, &#x017F;prang zwi&#x017F;chen den Hecken her¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[77/0084] ter drein bis dicht in ihre Nähe geſchlichen, und jetzt von einer Gruppe mitleidiger oder neugieriger Gäſte umringt worden war. „Wie heißt Du?“ fragte eine Dame. „Hardine,“ murmelte die Kleine. Es folgte noch eine weitere Examination, auf welche ſie mit ſtumpf¬ ſinniger Gleichgültigkeit den Kopf ſchüttelte. Endlich: „Was wollt Ihr, wen ſucht Ihr hier?“ „Meine Großmutter Hardine,“ ſagte das Kind. Auch das hörte das ſtolze Fräulein mit an; ſie ſah die verblüfften Mienen der hohen Geſellſchaft und — ſie ſchwieg. Sie ſchien wie erſtarrt oder in ferne Erinnerungen verloren. „Schweig, Hardine!“ herrſchte jetzt der Invalid ſeine Tochter an, indem er ſie mit Gewalt aus der Gruppe zog. „Schweig und komm! Gott iſt ein Va¬ ter der Waiſen. Es wird anderwärts barmherzigere Seelen geben.“ Damit wendete er ſich zum Gehen. Nach ein Paar Schritten aber ſah man einen bleifarbenen Schatten über ſeine Züge fliegen. Er ſchauderte zu¬ ſammen und klammerte ſich zitternd an das Lauben¬ gitter. Auf einen Wink des Fräuleins eilte der Pre¬ diger ihm zu Hülfe; ſein Sohn, der uns ſchon be¬ kannte Gymnaſiaſt, ſprang zwiſchen den Hecken her¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/84
Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/84>, abgerufen am 01.05.2024.