Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Frapan, Ilse [i. e. Ilse Akunian]: Flügel auf! Novellen. Berlin, 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

Mädchen! Furchtsamer als eine Maus, scheuer als ein Vogel. Wenn nur etwas rauscht, zittern schon alle Glieder, und das Herz klopft: "Flieh! flieh! flieh!" Sie fühlte sich der Annita von vor einem halben Jahr weit überlegen, und mit einer plötzlich erwachten Keckheit sagte sie in neckendem, übermüthigem Ton: "Guten Abend, Adolf" - "Ach, guten Abend, Du!" erwiderte nachlässig der Angeredete, darauf hielt er ihr zwei Finger hin; zugleich grabbelte er eine Schnur heraus und klemmte sich - nein, es war keine Täuschung, klemmte sich ein großes Monocle ins Auge.

"Bravo, bravo!" rief Angela Rothermund, "sehr chic, wirklich, so können Sie bleiben!" Annita hatte in der neu erwachten Verwunderung die zwei Finger genommen und geschüttelt. Sollte Adolf wirklich alles vergessen haben? Das wäre doch stark! Er schien ihr nun doch sehr verändert, männlich überlegen blickte er durch das Augenglas um sich, - sein Gesicht war auch entschieden blasser und magerer; fraß ihm nicht doch vielleicht seine unglückliche Liebe am Herzen, wie jener Wurm, von dem Heine singt, und sein Gleichmuth war nur Verstellung? Wie konnte es anders sein! Sie, die ihn nicht liebte, sollte die Geschichte nicht vergessen haben, während er, der unglücklich Liebende, sie vergessen hätte?

Nein, er verstellte sich, so gut wie er jetzt zwei Stücke Kuchen auf einmal nahm, als sie ihm das

Mädchen! Furchtsamer als eine Maus, scheuer als ein Vogel. Wenn nur etwas rauscht, zittern schon alle Glieder, und das Herz klopft: „Flieh! flieh! flieh!“ Sie fühlte sich der Annita von vor einem halben Jahr weit überlegen, und mit einer plötzlich erwachten Keckheit sagte sie in neckendem, übermüthigem Ton: „Guten Abend, Adolf“ – „Ach, guten Abend, Du!“ erwiderte nachlässig der Angeredete, darauf hielt er ihr zwei Finger hin; zugleich grabbelte er eine Schnur heraus und klemmte sich – nein, es war keine Täuschung, klemmte sich ein großes Monocle ins Auge.

„Bravo, bravo!“ rief Angela Rothermund, „sehr chic, wirklich, so können Sie bleiben!“ Annita hatte in der neu erwachten Verwunderung die zwei Finger genommen und geschüttelt. Sollte Adolf wirklich alles vergessen haben? Das wäre doch stark! Er schien ihr nun doch sehr verändert, männlich überlegen blickte er durch das Augenglas um sich, – sein Gesicht war auch entschieden blasser und magerer; fraß ihm nicht doch vielleicht seine unglückliche Liebe am Herzen, wie jener Wurm, von dem Heine singt, und sein Gleichmuth war nur Verstellung? Wie konnte es anders sein! Sie, die ihn nicht liebte, sollte die Geschichte nicht vergessen haben, während er, der unglücklich Liebende, sie vergessen hätte?

Nein, er verstellte sich, so gut wie er jetzt zwei Stücke Kuchen auf einmal nahm, als sie ihm das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0240" n="232"/>
Mädchen! Furchtsamer als eine Maus, scheuer als ein Vogel. Wenn nur etwas rauscht, zittern schon alle Glieder, und das Herz klopft: &#x201E;Flieh! flieh! flieh!&#x201C; Sie fühlte sich der Annita von vor einem halben Jahr weit überlegen, und mit einer plötzlich erwachten Keckheit sagte sie in neckendem, übermüthigem Ton: &#x201E;Guten Abend, Adolf&#x201C; &#x2013; &#x201E;Ach, guten Abend, Du!&#x201C; erwiderte nachlässig der Angeredete, darauf hielt er ihr zwei Finger hin; zugleich grabbelte er eine Schnur heraus und klemmte sich &#x2013; nein, es war keine Täuschung, klemmte sich ein großes Monocle ins Auge.</p>
        <p>&#x201E;Bravo, bravo!&#x201C; rief Angela Rothermund, &#x201E;sehr <hi rendition="#aq">chic</hi>, wirklich, so können Sie bleiben!&#x201C; Annita hatte in der neu erwachten Verwunderung die zwei Finger genommen und geschüttelt. Sollte Adolf wirklich alles vergessen haben? Das wäre doch stark! Er schien ihr nun doch sehr verändert, männlich überlegen blickte er durch das Augenglas um sich, &#x2013; sein Gesicht war auch entschieden blasser und magerer; fraß ihm nicht doch vielleicht seine unglückliche Liebe am Herzen, wie jener Wurm, von dem Heine singt, und sein Gleichmuth war nur Verstellung? Wie konnte es anders sein! Sie, die ihn nicht liebte, sollte die Geschichte nicht vergessen haben, während er, der unglücklich Liebende, sie vergessen hätte?</p>
        <p>Nein, er verstellte sich, so gut wie er jetzt zwei Stücke Kuchen auf einmal nahm, als sie ihm das
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[232/0240] Mädchen! Furchtsamer als eine Maus, scheuer als ein Vogel. Wenn nur etwas rauscht, zittern schon alle Glieder, und das Herz klopft: „Flieh! flieh! flieh!“ Sie fühlte sich der Annita von vor einem halben Jahr weit überlegen, und mit einer plötzlich erwachten Keckheit sagte sie in neckendem, übermüthigem Ton: „Guten Abend, Adolf“ – „Ach, guten Abend, Du!“ erwiderte nachlässig der Angeredete, darauf hielt er ihr zwei Finger hin; zugleich grabbelte er eine Schnur heraus und klemmte sich – nein, es war keine Täuschung, klemmte sich ein großes Monocle ins Auge. „Bravo, bravo!“ rief Angela Rothermund, „sehr chic, wirklich, so können Sie bleiben!“ Annita hatte in der neu erwachten Verwunderung die zwei Finger genommen und geschüttelt. Sollte Adolf wirklich alles vergessen haben? Das wäre doch stark! Er schien ihr nun doch sehr verändert, männlich überlegen blickte er durch das Augenglas um sich, – sein Gesicht war auch entschieden blasser und magerer; fraß ihm nicht doch vielleicht seine unglückliche Liebe am Herzen, wie jener Wurm, von dem Heine singt, und sein Gleichmuth war nur Verstellung? Wie konnte es anders sein! Sie, die ihn nicht liebte, sollte die Geschichte nicht vergessen haben, während er, der unglücklich Liebende, sie vergessen hätte? Nein, er verstellte sich, so gut wie er jetzt zwei Stücke Kuchen auf einmal nahm, als sie ihm das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.
  • Geviertstriche (—) wurden durch Halbgeviertstriche ersetzt (–).



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/frapan_fluegel_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/frapan_fluegel_1895/240
Zitationshilfe: Frapan, Ilse [i. e. Ilse Akunian]: Flügel auf! Novellen. Berlin, 1895, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/frapan_fluegel_1895/240>, abgerufen am 28.04.2024.