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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Sowie bei so beschaffenen Menschen die Aufmerksamkeit gewaltsam auf einen Köpertheil concentrirt wird, übersteigt die "attentionelle Bahnung" (Exner) der betreffenden sensiblen Leitung das normale Maass; die freie, flottirende Erregung versetzt sich, so zu sagen, auf diese Bahn, und es entsteht die locale Hyperalgesie, welche es verursacht, dass alle, irgendwie bedingten, Schmerzen maximal intensiv werden, dass alle Leiden "furchtbar" und "unerträglich" sind. Aber die Erregungsquantität, welche einmal eine sensible Bahn besetzt hat, verlässt sie nicht immer wieder wie beim normalen Menschen; sie verharrt nicht bloss, sondern vermehrt sich durch Zuströmen immer neuer Erregungen. So entwickelt sich nach einem leichten Gelenkstrauma eine Gelenksneurose; die Schmerzempfindungen der Ovarialschwellung werden zur dauernden Ovarie.

Die Nervenapparate der Circulation sind dem cerebralen Einfluss zugänglicher als beim Normalen: es besteht nervöses Herzklopfen, Neigung zur Synkope, excessives Erröthen und Erblassen u. s. f.

Aber allerdings nicht bloss centralen Einflüssen gegenüber sind die peripheren nervösen Apparate leichter erregbar: sie reagiren auch auf die adäquaten, functionellen Reize in excessiver und perverser Weise. Das Herzklopfen folgt mässiger Anstrengung wie gemütlicher Aufregung, und die Vasomotoren bringen Arterien zur Contraction ("absterbende Finger") ohne allen psychischen Einfluss. Und gerade wie einem leichten Trauma die Gelenksneurose folgt, so hinterlässt eine kurze Bronchitis nervöses Asthma und eine Indigestion häufige Cardialgie. So müssen wir anerkennen, dass die Zugänglichkeit für Erregungssummen centralen Ursprungs nur ein Specialfall der allgemeinen abnormen Erregbarkeit ist,1 wenn auch der für unser Thema wichtigste.

Ich glaube darum auch nicht, dass die alte "Reflextheorie" dieser Symptome, die man vielleicht besser einfach "nervöse" nennen würde, die aber zu dem empirischen Krankheitsbilde der Hysterie gehören, ganz zu verwerfen ist. Das Erbrechen, das ja die Dehnung des graviden Uterus begleitet, kann bei abnormer Erregbarkeit ganz wohl von geringfügigen uterinen Reizen reflectorisch ausgelöst werden; ja vielleicht auch von den wechselnden Schwellungen der Ovarien. Wir kennen so viele Fernwirkungen von Organveränderungen, so viele sonderbar "conjugirte Punkte", dass es nicht abzuweisen ist, eine Menge nervöser Symptome, welche das einemal psychisch bedingt sind, möchten in anderen Fällen

1 Oppenheim's "Labilität der Molecüle".

Sowie bei so beschaffenen Menschen die Aufmerksamkeit gewaltsam auf einen Köpertheil concentrirt wird, übersteigt die „attentionelle Bahnung“ (Exner) der betreffenden sensiblen Leitung das normale Maass; die freie, flottirende Erregung versetzt sich, so zu sagen, auf diese Bahn, und es entsteht die locale Hyperalgesie, welche es verursacht, dass alle, irgendwie bedingten, Schmerzen maximal intensiv werden, dass alle Leiden „furchtbar“ und „unerträglich“ sind. Aber die Erregungsquantität, welche einmal eine sensible Bahn besetzt hat, verlässt sie nicht immer wieder wie beim normalen Menschen; sie verharrt nicht bloss, sondern vermehrt sich durch Zuströmen immer neuer Erregungen. So entwickelt sich nach einem leichten Gelenkstrauma eine Gelenksneurose; die Schmerzempfindungen der Ovarialschwellung werden zur dauernden Ovarie.

Die Nervenapparate der Circulation sind dem cerebralen Einfluss zugänglicher als beim Normalen: es besteht nervöses Herzklopfen, Neigung zur Synkope, excessives Erröthen und Erblassen u. s. f.

Aber allerdings nicht bloss centralen Einflüssen gegenüber sind die peripheren nervösen Apparate leichter erregbar: sie reagiren auch auf die adäquaten, functionellen Reize in excessiver und perverser Weise. Das Herzklopfen folgt mässiger Anstrengung wie gemütlicher Aufregung, und die Vasomotoren bringen Arterien zur Contraction („absterbende Finger“) ohne allen psychischen Einfluss. Und gerade wie einem leichten Trauma die Gelenksneurose folgt, so hinterlässt eine kurze Bronchitis nervöses Asthma und eine Indigestion häufige Cardialgie. So müssen wir anerkennen, dass die Zugänglichkeit für Erregungssummen centralen Ursprungs nur ein Specialfall der allgemeinen abnormen Erregbarkeit ist,1 wenn auch der für unser Thema wichtigste.

Ich glaube darum auch nicht, dass die alte „Reflextheorie“ dieser Symptome, die man vielleicht besser einfach „nervöse“ nennen würde, die aber zu dem empirischen Krankheitsbilde der Hysterie gehören, ganz zu verwerfen ist. Das Erbrechen, das ja die Dehnung des graviden Uterus begleitet, kann bei abnormer Erregbarkeit ganz wohl von geringfügigen uterinen Reizen reflectorisch ausgelöst werden; ja vielleicht auch von den wechselnden Schwellungen der Ovarien. Wir kennen so viele Fernwirkungen von Organveränderungen, so viele sonderbar „conjugirte Punkte“, dass es nicht abzuweisen ist, eine Menge nervöser Symptome, welche das einemal psychisch bedingt sind, möchten in anderen Fällen

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[212/0218] Sowie bei so beschaffenen Menschen die Aufmerksamkeit gewaltsam auf einen Köpertheil concentrirt wird, übersteigt die „attentionelle Bahnung“ (Exner) der betreffenden sensiblen Leitung das normale Maass; die freie, flottirende Erregung versetzt sich, so zu sagen, auf diese Bahn, und es entsteht die locale Hyperalgesie, welche es verursacht, dass alle, irgendwie bedingten, Schmerzen maximal intensiv werden, dass alle Leiden „furchtbar“ und „unerträglich“ sind. Aber die Erregungsquantität, welche einmal eine sensible Bahn besetzt hat, verlässt sie nicht immer wieder wie beim normalen Menschen; sie verharrt nicht bloss, sondern vermehrt sich durch Zuströmen immer neuer Erregungen. So entwickelt sich nach einem leichten Gelenkstrauma eine Gelenksneurose; die Schmerzempfindungen der Ovarialschwellung werden zur dauernden Ovarie. Die Nervenapparate der Circulation sind dem cerebralen Einfluss zugänglicher als beim Normalen: es besteht nervöses Herzklopfen, Neigung zur Synkope, excessives Erröthen und Erblassen u. s. f. Aber allerdings nicht bloss centralen Einflüssen gegenüber sind die peripheren nervösen Apparate leichter erregbar: sie reagiren auch auf die adäquaten, functionellen Reize in excessiver und perverser Weise. Das Herzklopfen folgt mässiger Anstrengung wie gemütlicher Aufregung, und die Vasomotoren bringen Arterien zur Contraction („absterbende Finger“) ohne allen psychischen Einfluss. Und gerade wie einem leichten Trauma die Gelenksneurose folgt, so hinterlässt eine kurze Bronchitis nervöses Asthma und eine Indigestion häufige Cardialgie. So müssen wir anerkennen, dass die Zugänglichkeit für Erregungssummen centralen Ursprungs nur ein Specialfall der allgemeinen abnormen Erregbarkeit ist, 1 wenn auch der für unser Thema wichtigste. Ich glaube darum auch nicht, dass die alte „Reflextheorie“ dieser Symptome, die man vielleicht besser einfach „nervöse“ nennen würde, die aber zu dem empirischen Krankheitsbilde der Hysterie gehören, ganz zu verwerfen ist. Das Erbrechen, das ja die Dehnung des graviden Uterus begleitet, kann bei abnormer Erregbarkeit ganz wohl von geringfügigen uterinen Reizen reflectorisch ausgelöst werden; ja vielleicht auch von den wechselnden Schwellungen der Ovarien. Wir kennen so viele Fernwirkungen von Organveränderungen, so viele sonderbar „conjugirte Punkte“, dass es nicht abzuweisen ist, eine Menge nervöser Symptome, welche das einemal psychisch bedingt sind, möchten in anderen Fällen 1 Oppenheim's „Labilität der Molecüle“.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/218>, abgerufen am 28.04.2024.