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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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aufheben, heisst den Kranken das volle Maass ihrer Resistenzfähigkeit wiedergeben, mit dem sie erfolgreich der Einwirkung der Schädlichkeit widerstehen können. Man kann solchen Kranken durch länger fortgesetzte Ueberwachung und zeitweiliges "chimney sweeping" (vgl. p. 23) sehr viel leisten.

6. Ich hätte noch des scheinbaren Widerspruches zu gedenken, der sich zwischen dem Zugeständniss, dass nicht alle hysterischen Symptome psychogen seien, und der Behauptung, dass man sie alle durch ein psychotherapeutisches Verfahren beseitigen könne, erhebt. Die Lösung liegt darin, dass ein Theil dieser nicht psychogenen Symptome zwar Krankheitszeichen darstellt, aber nicht als Leiden bezeichnet werden darf, so die Stigmata; es macht sich also praktisch nicht bemerkbar, wenn sie die therapeutische Erledigung des Krankheitsfalles überdauern. Für andere solche Symptome scheint zu gelten, dass sie auf irgend einem Umweg von den psychogenen Symptomen mitgerissen werden, wie sie ja wohl auch auf irgend einem Umweg doch von psychischer Verursachung abhängen.



Ich habe nun der Schwierigkeiten und Uebelstände unseres therapeutischen Verfahrens zu gedenken, soweit diese nicht aus den vorstehenden Krankengeschichten oder aus den folgenden Bemerkungen über die Technik der Methode jedermann einleuchten können. - Ich will mehr aufzählen und andeuten als ausführen: Das Verfahren ist mühselig und zeitraubend für den Arzt, es setzt ein grosses Interesse für psychologische Vorkomnisse und doch auch persönliche Theilnahme für den Kranken bei ihm voraus. Ich könnte mir nicht vorstellen, dass ich es zu Stande brächte, mich in den psychischen Mechanismus einer Hysterie bei einer Person zu vertiefen, die mir gemein und widerwärtig vorkäme, die nicht bei näherer Bekanntschaft im Stande wäre, menschliche Sympathie zu erwecken, während ich doch die Behandlung eines Tabikers oder Rheumatikers unabhängig von solchem persönlichen Wohlgefallen halten kann. Nicht mindere Bedingungen werden von Seiten der Kranken erfordert. Unterhalb eines gewissen Niveaus von Intelligenz ist das Verfahren überhaupt nicht anwendbar, durch jede Beimengung von Schwachsinn wird es ausserordentlich erschwert. Man braucht die volle Einwilligung, die volle Aufmerksamkeit der Kranken, vor allem aber ihr Zutrauen, da die Analyse regelmässig auf die intimsten und geheimst gehaltenen psychischen Vorgänge führt. Ein guter Theil der Kranken, die für solche Behandlung geeignet wären, entzieht sich dem Arzte, sobald ihnen die Ahnung aufdämmert,

aufheben, heisst den Kranken das volle Maass ihrer Resistenzfähigkeit wiedergeben, mit dem sie erfolgreich der Einwirkung der Schädlichkeit widerstehen können. Man kann solchen Kranken durch länger fortgesetzte Ueberwachung und zeitweiliges „chimney sweeping“ (vgl. p. 23) sehr viel leisten.

6. Ich hätte noch des scheinbaren Widerspruches zu gedenken, der sich zwischen dem Zugeständniss, dass nicht alle hysterischen Symptome psychogen seien, und der Behauptung, dass man sie alle durch ein psychotherapeutisches Verfahren beseitigen könne, erhebt. Die Lösung liegt darin, dass ein Theil dieser nicht psychogenen Symptome zwar Krankheitszeichen darstellt, aber nicht als Leiden bezeichnet werden darf, so die Stigmata; es macht sich also praktisch nicht bemerkbar, wenn sie die therapeutische Erledigung des Krankheitsfalles überdauern. Für andere solche Symptome scheint zu gelten, dass sie auf irgend einem Umweg von den psychogenen Symptomen mitgerissen werden, wie sie ja wohl auch auf irgend einem Umweg doch von psychischer Verursachung abhängen.



Ich habe nun der Schwierigkeiten und Uebelstände unseres therapeutischen Verfahrens zu gedenken, soweit diese nicht aus den vorstehenden Krankengeschichten oder aus den folgenden Bemerkungen über die Technik der Methode jedermann einleuchten können. – Ich will mehr aufzählen und andeuten als ausführen: Das Verfahren ist mühselig und zeitraubend für den Arzt, es setzt ein grosses Interesse für psychologische Vorkomnisse und doch auch persönliche Theilnahme für den Kranken bei ihm voraus. Ich könnte mir nicht vorstellen, dass ich es zu Stande brächte, mich in den psychischen Mechanismus einer Hysterie bei einer Person zu vertiefen, die mir gemein und widerwärtig vorkäme, die nicht bei näherer Bekanntschaft im Stande wäre, menschliche Sympathie zu erwecken, während ich doch die Behandlung eines Tabikers oder Rheumatikers unabhängig von solchem persönlichen Wohlgefallen halten kann. Nicht mindere Bedingungen werden von Seiten der Kranken erfordert. Unterhalb eines gewissen Niveaus von Intelligenz ist das Verfahren überhaupt nicht anwendbar, durch jede Beimengung von Schwachsinn wird es ausserordentlich erschwert. Man braucht die volle Einwilligung, die volle Aufmerksamkeit der Kranken, vor allem aber ihr Zutrauen, da die Analyse regelmässig auf die intimsten und geheimst gehaltenen psychischen Vorgänge führt. Ein guter Theil der Kranken, die für solche Behandlung geeignet wären, entzieht sich dem Arzte, sobald ihnen die Ahnung aufdämmert,

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[231/0237] aufheben, heisst den Kranken das volle Maass ihrer Resistenzfähigkeit wiedergeben, mit dem sie erfolgreich der Einwirkung der Schädlichkeit widerstehen können. Man kann solchen Kranken durch länger fortgesetzte Ueberwachung und zeitweiliges „chimney sweeping“ (vgl. p. 23) sehr viel leisten. 6. Ich hätte noch des scheinbaren Widerspruches zu gedenken, der sich zwischen dem Zugeständniss, dass nicht alle hysterischen Symptome psychogen seien, und der Behauptung, dass man sie alle durch ein psychotherapeutisches Verfahren beseitigen könne, erhebt. Die Lösung liegt darin, dass ein Theil dieser nicht psychogenen Symptome zwar Krankheitszeichen darstellt, aber nicht als Leiden bezeichnet werden darf, so die Stigmata; es macht sich also praktisch nicht bemerkbar, wenn sie die therapeutische Erledigung des Krankheitsfalles überdauern. Für andere solche Symptome scheint zu gelten, dass sie auf irgend einem Umweg von den psychogenen Symptomen mitgerissen werden, wie sie ja wohl auch auf irgend einem Umweg doch von psychischer Verursachung abhängen. Ich habe nun der Schwierigkeiten und Uebelstände unseres therapeutischen Verfahrens zu gedenken, soweit diese nicht aus den vorstehenden Krankengeschichten oder aus den folgenden Bemerkungen über die Technik der Methode jedermann einleuchten können. – Ich will mehr aufzählen und andeuten als ausführen: Das Verfahren ist mühselig und zeitraubend für den Arzt, es setzt ein grosses Interesse für psychologische Vorkomnisse und doch auch persönliche Theilnahme für den Kranken bei ihm voraus. Ich könnte mir nicht vorstellen, dass ich es zu Stande brächte, mich in den psychischen Mechanismus einer Hysterie bei einer Person zu vertiefen, die mir gemein und widerwärtig vorkäme, die nicht bei näherer Bekanntschaft im Stande wäre, menschliche Sympathie zu erwecken, während ich doch die Behandlung eines Tabikers oder Rheumatikers unabhängig von solchem persönlichen Wohlgefallen halten kann. Nicht mindere Bedingungen werden von Seiten der Kranken erfordert. Unterhalb eines gewissen Niveaus von Intelligenz ist das Verfahren überhaupt nicht anwendbar, durch jede Beimengung von Schwachsinn wird es ausserordentlich erschwert. Man braucht die volle Einwilligung, die volle Aufmerksamkeit der Kranken, vor allem aber ihr Zutrauen, da die Analyse regelmässig auf die intimsten und geheimst gehaltenen psychischen Vorgänge führt. Ein guter Theil der Kranken, die für solche Behandlung geeignet wären, entzieht sich dem Arzte, sobald ihnen die Ahnung aufdämmert,

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/237>, abgerufen am 27.04.2024.