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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Urtheil über einen Fall von Neurose vor und nach einer solchen Analyse denke, gerathe ich fast in Versuchung, diese Analyse für unentbehrlich zur Kenntniss einer neurotischen Erkrankung zu halten. Ich habe mich ferner daran gewöhnt, die Anwendung der kathartischen Psychotherapie mit einer Liegecur zu verbinden, die nach Bedürfniss zur vollen Weir-Mitchell'schen Mastcur ausgestaltet wird. Ich habe dabei den Vortheil, dass ich so einerseits die während einer Psychotherapie sehr störende Einmengung neuer psychischer Eindrücke vermeide, andererseits die Langeweile der Mastcur, in der die Kranken nicht selten in ein schädliches Träumen verfallen, ausschliesse. Man sollte erwarten, dass die oft sehr erhebliche psychische Arbeit, die man während einer kathartischen Cur den Kranken aufbürdet, die Erregungen infolge der Reproduction traumatischer Erlebnisse, dem Sinne der Weir-Mitchell'schen Ruhecur zuwiderliefe und die Erfolge verhinderte, die man von ihr zu sehen gewohnt ist. Allein das Gegentheil trifft zu; man erreicht durch solche Combination der Breuer'schen mit der Weir-Mitchell'schen Therapie alle körperliche Aufbesserung, die man von letzterer erwartet, und so weitgehende psychische Beeinflussung, wie sie ohne Psychotherapie bei der Ruhecur niemals zustande kommt.

II.

Ich knüpfe nun an meine früheren Bemerkungen an, bei meinen Versuchen, die Breuer'sche Methode im grösseren Umfange anzuwenden, sei ich an die Schwierigkeit gerathen, dass eine Anzahl von Kranken nicht in Hypnose zu versetzen war, obwohl die Diagnose auf Hysterie lautete und die Wahrscheinlichkeit für die Geltung des von uns beschriebenen psychischen Mechanismus sprach. Ich bedurfte ja der Hypnose zur Erweiterung des Gedächtnisses, um die im gewöhnlichen Bewusstsein nicht vorhandenen pathogenen Erinnerungen zu finden, musste also entweder auf solche Kranke verzichten oder diese Erweiterung auf andere Weise zu erreichen suchen.

Woran es liegt, dass der eine hypnotisirbar ist, der andere nicht, das wusste ich mir ebensowenig wie Andere zu deuten, konnte also einen causalen Weg zur Beseitigung der Schwierigkeit nicht einschlagen. Ich merkte nur, dass bei manchen Patienten das Hinderniss noch weiter zurück lag; sie weigerten sich bereits des Versuches zur Hypnose. Ich kam dann einmal auf den Einfall, dass beide Fälle identisch sein mögen und beide ein Nichtwollen bedeuten können. Nicht hypnotisirbar sei derjenige, der ein psychisches Bedenken gegen

Urtheil über einen Fall von Neurose vor und nach einer solchen Analyse denke, gerathe ich fast in Versuchung, diese Analyse für unentbehrlich zur Kenntniss einer neurotischen Erkrankung zu halten. Ich habe mich ferner daran gewöhnt, die Anwendung der kathartischen Psychotherapie mit einer Liegecur zu verbinden, die nach Bedürfniss zur vollen Weir-Mitchell'schen Mastcur ausgestaltet wird. Ich habe dabei den Vortheil, dass ich so einerseits die während einer Psychotherapie sehr störende Einmengung neuer psychischer Eindrücke vermeide, andererseits die Langeweile der Mastcur, in der die Kranken nicht selten in ein schädliches Träumen verfallen, ausschliesse. Man sollte erwarten, dass die oft sehr erhebliche psychische Arbeit, die man während einer kathartischen Cur den Kranken aufbürdet, die Erregungen infolge der Reproduction traumatischer Erlebnisse, dem Sinne der Weir-Mitchell'schen Ruhecur zuwiderliefe und die Erfolge verhinderte, die man von ihr zu sehen gewohnt ist. Allein das Gegentheil trifft zu; man erreicht durch solche Combination der Breuer'schen mit der Weir-Mitchell'schen Therapie alle körperliche Aufbesserung, die man von letzterer erwartet, und so weitgehende psychische Beeinflussung, wie sie ohne Psychotherapie bei der Ruhecur niemals zustande kommt.

II.

Ich knüpfe nun an meine früheren Bemerkungen an, bei meinen Versuchen, die Breuer'sche Methode im grösseren Umfange anzuwenden, sei ich an die Schwierigkeit gerathen, dass eine Anzahl von Kranken nicht in Hypnose zu versetzen war, obwohl die Diagnose auf Hysterie lautete und die Wahrscheinlichkeit für die Geltung des von uns beschriebenen psychischen Mechanismus sprach. Ich bedurfte ja der Hypnose zur Erweiterung des Gedächtnisses, um die im gewöhnlichen Bewusstsein nicht vorhandenen pathogenen Erinnerungen zu finden, musste also entweder auf solche Kranke verzichten oder diese Erweiterung auf andere Weise zu erreichen suchen.

Woran es liegt, dass der eine hypnotisirbar ist, der andere nicht, das wusste ich mir ebensowenig wie Andere zu deuten, konnte also einen causalen Weg zur Beseitigung der Schwierigkeit nicht einschlagen. Ich merkte nur, dass bei manchen Patienten das Hinderniss noch weiter zurück lag; sie weigerten sich bereits des Versuches zur Hypnose. Ich kam dann einmal auf den Einfall, dass beide Fälle identisch sein mögen und beide ein Nichtwollen bedeuten können. Nicht hypnotisirbar sei derjenige, der ein psychisches Bedenken gegen

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[233/0239] Urtheil über einen Fall von Neurose vor und nach einer solchen Analyse denke, gerathe ich fast in Versuchung, diese Analyse für unentbehrlich zur Kenntniss einer neurotischen Erkrankung zu halten. Ich habe mich ferner daran gewöhnt, die Anwendung der kathartischen Psychotherapie mit einer Liegecur zu verbinden, die nach Bedürfniss zur vollen Weir-Mitchell'schen Mastcur ausgestaltet wird. Ich habe dabei den Vortheil, dass ich so einerseits die während einer Psychotherapie sehr störende Einmengung neuer psychischer Eindrücke vermeide, andererseits die Langeweile der Mastcur, in der die Kranken nicht selten in ein schädliches Träumen verfallen, ausschliesse. Man sollte erwarten, dass die oft sehr erhebliche psychische Arbeit, die man während einer kathartischen Cur den Kranken aufbürdet, die Erregungen infolge der Reproduction traumatischer Erlebnisse, dem Sinne der Weir-Mitchell'schen Ruhecur zuwiderliefe und die Erfolge verhinderte, die man von ihr zu sehen gewohnt ist. Allein das Gegentheil trifft zu; man erreicht durch solche Combination der Breuer'schen mit der Weir-Mitchell'schen Therapie alle körperliche Aufbesserung, die man von letzterer erwartet, und so weitgehende psychische Beeinflussung, wie sie ohne Psychotherapie bei der Ruhecur niemals zustande kommt. II. Ich knüpfe nun an meine früheren Bemerkungen an, bei meinen Versuchen, die Breuer'sche Methode im grösseren Umfange anzuwenden, sei ich an die Schwierigkeit gerathen, dass eine Anzahl von Kranken nicht in Hypnose zu versetzen war, obwohl die Diagnose auf Hysterie lautete und die Wahrscheinlichkeit für die Geltung des von uns beschriebenen psychischen Mechanismus sprach. Ich bedurfte ja der Hypnose zur Erweiterung des Gedächtnisses, um die im gewöhnlichen Bewusstsein nicht vorhandenen pathogenen Erinnerungen zu finden, musste also entweder auf solche Kranke verzichten oder diese Erweiterung auf andere Weise zu erreichen suchen. Woran es liegt, dass der eine hypnotisirbar ist, der andere nicht, das wusste ich mir ebensowenig wie Andere zu deuten, konnte also einen causalen Weg zur Beseitigung der Schwierigkeit nicht einschlagen. Ich merkte nur, dass bei manchen Patienten das Hinderniss noch weiter zurück lag; sie weigerten sich bereits des Versuches zur Hypnose. Ich kam dann einmal auf den Einfall, dass beide Fälle identisch sein mögen und beide ein Nichtwollen bedeuten können. Nicht hypnotisirbar sei derjenige, der ein psychisches Bedenken gegen

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/239>, abgerufen am 28.03.2024.