Am Bord des Washington. Jm Hafen von Marseille, den 20. August 1814.
Wie wirst Du erschrocken seyn, arme Adele, als Du mein Zimmer leer fandest? Wie ver- stohlen und mit immer steigender Angst wirst Du Dich nach mir erkundigt haben, fast mehr fürchtend meine Spur zu finden, als sie zu ver- lieren. Glaube mir, diese Vorstellung hat mich sehr gequält. Gern hätte ich Dir mein Vor- haben vertraut. Es wäre mir so süß gewesen, mich noch ein Mahl scheidend an die Brust zu legen, an der ich oftmals meine stummen Thrä- nen barg! Aber wie durft' ich wagen, die Last dieses Geheimnisses auf Deine zarte Seele zu wälzen. Woher hättest Du die Fassung ge- nommen, Deiner Mutter das gewöhnliche, kind- lich fröhliche Mädchen zu zeigen? oder mit Un-
Virginia an Adele.
Am Bord des Waſhington. Jm Hafen von Marſeille, den 20. Auguſt 1814.
Wie wirſt Du erſchrocken ſeyn, arme Adele, als Du mein Zimmer leer fandeſt? Wie ver- ſtohlen und mit immer ſteigender Angſt wirſt Du Dich nach mir erkundigt haben, faſt mehr fuͤrchtend meine Spur zu finden, als ſie zu ver- lieren. Glaube mir, dieſe Vorſtellung hat mich ſehr gequaͤlt. Gern haͤtte ich Dir mein Vor- haben vertraut. Es waͤre mir ſo ſuͤß geweſen, mich noch ein Mahl ſcheidend an die Bruſt zu legen, an der ich oftmals meine ſtummen Thraͤ- nen barg! Aber wie durft’ ich wagen, die Laſt dieſes Geheimniſſes auf Deine zarte Seele zu waͤlzen. Woher haͤtteſt Du die Faſſung ge- nommen, Deiner Mutter das gewoͤhnliche, kind- lich froͤhliche Maͤdchen zu zeigen? oder mit Un-
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Virginia an Adele.
Am Bord des Waſhington. Jm Hafen
von Marſeille, den 20. Auguſt 1814.
Wie wirſt Du erſchrocken ſeyn, arme Adele,
als Du mein Zimmer leer fandeſt? Wie ver-
ſtohlen und mit immer ſteigender Angſt wirſt
Du Dich nach mir erkundigt haben, faſt mehr
fuͤrchtend meine Spur zu finden, als ſie zu ver-
lieren. Glaube mir, dieſe Vorſtellung hat mich
ſehr gequaͤlt. Gern haͤtte ich Dir mein Vor-
haben vertraut. Es waͤre mir ſo ſuͤß geweſen,
mich noch ein Mahl ſcheidend an die Bruſt zu
legen, an der ich oftmals meine ſtummen Thraͤ-
nen barg! Aber wie durft’ ich wagen, die
Laſt dieſes Geheimniſſes auf Deine zarte Seele
zu waͤlzen. Woher haͤtteſt Du die Faſſung ge-
nommen, Deiner Mutter das gewoͤhnliche, kind-
lich froͤhliche Maͤdchen zu zeigen? oder mit Un-
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Frölich, Henriette: Virginia oder die Kolonie von Kentucky. Bd. 1. Hrsg. v. Jerta. Berlin, 1820, S. [7]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/froelich_virginia01_1820/15>, abgerufen am 06.02.2023.
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