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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

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Von der Zeit an hatte er zu seinem grösten Leidwesen
einen unwiderstehlichen Trieb zu stehlen. Ungeach-
tet wiederholter, scharfer Strafen kam es endlich so
weit, daß er zum Galgen verdammt wurde. Er
selbst war damit sehr zufrieden, weil er von der Sträf-
lichkeit seiner Handlungen überzeugt war, und doch
keine Hoffnung hatte, daß er sich je werde bessern
können. Die Bemühungen eines philosophischen Arz-
tes haben ihm das Leben gerettet; und zu seinem Auf-
enthalt ist ihm, als einem Verrückten, daß Dollhaus
angewiesen worden. Man erinnere sich, was ich im
1ten Kap. §. 18 und 44 von den theilweisen Verle-
tzungen gesagt habe, welche bey Erregung der Ge-
müthsbewegungen einen so mächtigen Einfluß haben,
und wovon zuverläßig auch nach Verschiedenheit des
Ortes verschiedene Gefühle und Bedürfniße entstehen,
welche dann verschiedene Regungen des Willens her-
vorbringen.

Von dem unbedeutendsten Eckel also gegen eine
Arzney oder eine Speise bis zur unwiderstehlichsten
Mordwuth geht es in allen Stufen von Begierden
und Abscheu genau so, wie bey allen andern Bestre-
bungen der Natur. So wie sie alle unter gewissen
Bedingnißen göttliche Anstalten sind, so ist auch der
Instinkt in den Organismus der Thiere und des Men-
schen zu desselben Erhaltung verwebt worden. Sie
sind aber den Gesetzen der mancherley Zerrüttungen un-
terworfen, und bedarfen alle der Leitung eines wei-
sen Arztes. Den Instinkt blindlings befolgen, und
ihn verächtlich hindansetzen, ist beydes gleiche Thor-

heit.

Von der Zeit an hatte er zu ſeinem groͤſten Leidweſen
einen unwiderſtehlichen Trieb zu ſtehlen. Ungeach-
tet wiederholter, ſcharfer Strafen kam es endlich ſo
weit, daß er zum Galgen verdammt wurde. Er
ſelbſt war damit ſehr zufrieden, weil er von der Straͤf-
lichkeit ſeiner Handlungen uͤberzeugt war, und doch
keine Hoffnung hatte, daß er ſich je werde beſſern
koͤnnen. Die Bemuͤhungen eines philoſophiſchen Arz-
tes haben ihm das Leben gerettet; und zu ſeinem Auf-
enthalt iſt ihm, als einem Verruͤckten, daß Dollhaus
angewieſen worden. Man erinnere ſich, was ich im
1ten Kap. §. 18 und 44 von den theilweiſen Verle-
tzungen geſagt habe, welche bey Erregung der Ge-
muͤthsbewegungen einen ſo maͤchtigen Einfluß haben,
und wovon zuverlaͤßig auch nach Verſchiedenheit des
Ortes verſchiedene Gefuͤhle und Beduͤrfniße entſtehen,
welche dann verſchiedene Regungen des Willens her-
vorbringen.

Von dem unbedeutendſten Eckel alſo gegen eine
Arzney oder eine Speiſe bis zur unwiderſtehlichſten
Mordwuth geht es in allen Stufen von Begierden
und Abſcheu genau ſo, wie bey allen andern Beſtre-
bungen der Natur. So wie ſie alle unter gewiſſen
Bedingnißen goͤttliche Anſtalten ſind, ſo iſt auch der
Inſtinkt in den Organismus der Thiere und des Men-
ſchen zu deſſelben Erhaltung verwebt worden. Sie
ſind aber den Geſetzen der mancherley Zerruͤttungen un-
terworfen, und bedarfen alle der Leitung eines wei-
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[678/0697] Von der Zeit an hatte er zu ſeinem groͤſten Leidweſen einen unwiderſtehlichen Trieb zu ſtehlen. Ungeach- tet wiederholter, ſcharfer Strafen kam es endlich ſo weit, daß er zum Galgen verdammt wurde. Er ſelbſt war damit ſehr zufrieden, weil er von der Straͤf- lichkeit ſeiner Handlungen uͤberzeugt war, und doch keine Hoffnung hatte, daß er ſich je werde beſſern koͤnnen. Die Bemuͤhungen eines philoſophiſchen Arz- tes haben ihm das Leben gerettet; und zu ſeinem Auf- enthalt iſt ihm, als einem Verruͤckten, daß Dollhaus angewieſen worden. Man erinnere ſich, was ich im 1ten Kap. §. 18 und 44 von den theilweiſen Verle- tzungen geſagt habe, welche bey Erregung der Ge- muͤthsbewegungen einen ſo maͤchtigen Einfluß haben, und wovon zuverlaͤßig auch nach Verſchiedenheit des Ortes verſchiedene Gefuͤhle und Beduͤrfniße entſtehen, welche dann verſchiedene Regungen des Willens her- vorbringen. Von dem unbedeutendſten Eckel alſo gegen eine Arzney oder eine Speiſe bis zur unwiderſtehlichſten Mordwuth geht es in allen Stufen von Begierden und Abſcheu genau ſo, wie bey allen andern Beſtre- bungen der Natur. So wie ſie alle unter gewiſſen Bedingnißen goͤttliche Anſtalten ſind, ſo iſt auch der Inſtinkt in den Organismus der Thiere und des Men- ſchen zu deſſelben Erhaltung verwebt worden. Sie ſind aber den Geſetzen der mancherley Zerruͤttungen un- terworfen, und bedarfen alle der Leitung eines wei- ſen Arztes. Den Inſtinkt blindlings befolgen, und ihn veraͤchtlich hindanſetzen, iſt beydes gleiche Thor- heit.

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Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 678. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/697>, abgerufen am 29.04.2024.