Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

dessen Schriften und Charakter.
und noch mehr in seinem Umgange und seinem Le-
ben sichtbar wurde. Könnten wir doch diese
Empfindung unsern Lesern mittheilen! könnten
wir das Bild, das von ihm in unserer Einbil-
dungskraft dasteht, zergliedern, ohne es zu zer-
stören, um auch dem Verstande unsrer Leser einige
Züge davon kenntlich zu machen! Aber auch das
unvollkommenste Bildniß eines solchen Geistes
und eines solchen Herzens muß immer noch ein
einnehmendes Gemälde geben, wenigstens muß es
eine reizende Arbeit für den Maler seyn; und
warum sollen wir nicht auch etwas auf unser ei-
gnes Vergnügen rechnen dürfen?

Wenn in einem schönen Körper es irgend ein
besonderer Zug, ein einzelner Theil ist, der ihn
schön macht: so ist es dem Maler leicht, zu tref-
fen. Aber wenn die Schönheit nicht in der aus-
nehmenden Vortrefflichkeit eines Gliedes, sondern
in der guten Bildung aller Theile, und in der Ue-
bereinstimmung derselben liegt: dann wird es
schwer, das, was man bey dem Anblicke auf ein-
mal empfunden hat, durch einzelne Züge nach

N 5

deſſen Schriften und Charakter.
und noch mehr in ſeinem Umgange und ſeinem Le-
ben ſichtbar wurde. Koͤnnten wir doch dieſe
Empfindung unſern Leſern mittheilen! koͤnnten
wir das Bild, das von ihm in unſerer Einbil-
dungskraft daſteht, zergliedern, ohne es zu zer-
ſtoͤren, um auch dem Verſtande unſrer Leſer einige
Zuͤge davon kenntlich zu machen! Aber auch das
unvollkommenſte Bildniß eines ſolchen Geiſtes
und eines ſolchen Herzens muß immer noch ein
einnehmendes Gemaͤlde geben, wenigſtens muß es
eine reizende Arbeit fuͤr den Maler ſeyn; und
warum ſollen wir nicht auch etwas auf unſer ei-
gnes Vergnuͤgen rechnen duͤrfen?

Wenn in einem ſchoͤnen Koͤrper es irgend ein
beſonderer Zug, ein einzelner Theil iſt, der ihn
ſchoͤn macht: ſo iſt es dem Maler leicht, zu tref-
fen. Aber wenn die Schoͤnheit nicht in der aus-
nehmenden Vortrefflichkeit eines Gliedes, ſondern
in der guten Bildung aller Theile, und in der Ue-
bereinſtimmung derſelben liegt: dann wird es
ſchwer, das, was man bey dem Anblicke auf ein-
mal empfunden hat, durch einzelne Zuͤge nach

N 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0207" n="201"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">de&#x017F;&#x017F;en Schriften und Charakter.</hi></fw><lb/>
und noch mehr in &#x017F;einem Umgange und &#x017F;einem Le-<lb/>
ben &#x017F;ichtbar wurde. Ko&#x0364;nnten wir doch die&#x017F;e<lb/>
Empfindung un&#x017F;ern Le&#x017F;ern mittheilen! ko&#x0364;nnten<lb/>
wir das Bild, das von ihm in un&#x017F;erer Einbil-<lb/>
dungskraft da&#x017F;teht, zergliedern, ohne es zu zer-<lb/>
&#x017F;to&#x0364;ren, um auch dem Ver&#x017F;tande un&#x017F;rer Le&#x017F;er einige<lb/>
Zu&#x0364;ge davon kenntlich zu machen! Aber auch das<lb/>
unvollkommen&#x017F;te Bildniß eines &#x017F;olchen Gei&#x017F;tes<lb/>
und eines &#x017F;olchen Herzens muß immer noch ein<lb/>
einnehmendes Gema&#x0364;lde geben, wenig&#x017F;tens muß es<lb/>
eine reizende Arbeit fu&#x0364;r den Maler &#x017F;eyn; und<lb/>
warum &#x017F;ollen wir nicht auch etwas auf un&#x017F;er ei-<lb/>
gnes Vergnu&#x0364;gen rechnen du&#x0364;rfen?</p><lb/>
        <p>Wenn in einem &#x017F;cho&#x0364;nen Ko&#x0364;rper es irgend ein<lb/>
be&#x017F;onderer Zug, ein einzelner Theil i&#x017F;t, der ihn<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;n macht: &#x017F;o i&#x017F;t es dem Maler leicht, zu tref-<lb/>
fen. Aber wenn die Scho&#x0364;nheit nicht in der aus-<lb/>
nehmenden Vortrefflichkeit eines Gliedes, &#x017F;ondern<lb/>
in der guten Bildung aller Theile, und in der Ue-<lb/>
berein&#x017F;timmung der&#x017F;elben liegt: dann wird es<lb/>
&#x017F;chwer, das, was man bey dem Anblicke auf ein-<lb/>
mal empfunden hat, durch einzelne Zu&#x0364;ge nach<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">N 5</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[201/0207] deſſen Schriften und Charakter. und noch mehr in ſeinem Umgange und ſeinem Le- ben ſichtbar wurde. Koͤnnten wir doch dieſe Empfindung unſern Leſern mittheilen! koͤnnten wir das Bild, das von ihm in unſerer Einbil- dungskraft daſteht, zergliedern, ohne es zu zer- ſtoͤren, um auch dem Verſtande unſrer Leſer einige Zuͤge davon kenntlich zu machen! Aber auch das unvollkommenſte Bildniß eines ſolchen Geiſtes und eines ſolchen Herzens muß immer noch ein einnehmendes Gemaͤlde geben, wenigſtens muß es eine reizende Arbeit fuͤr den Maler ſeyn; und warum ſollen wir nicht auch etwas auf unſer ei- gnes Vergnuͤgen rechnen duͤrfen? Wenn in einem ſchoͤnen Koͤrper es irgend ein beſonderer Zug, ein einzelner Theil iſt, der ihn ſchoͤn macht: ſo iſt es dem Maler leicht, zu tref- fen. Aber wenn die Schoͤnheit nicht in der aus- nehmenden Vortrefflichkeit eines Gliedes, ſondern in der guten Bildung aller Theile, und in der Ue- bereinſtimmung derſelben liegt: dann wird es ſchwer, das, was man bey dem Anblicke auf ein- mal empfunden hat, durch einzelne Zuͤge nach N 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/207
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/207>, abgerufen am 27.04.2024.