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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

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über das Interessirende.
rigkeiten zu überwinden, Anstalten zu machen, Un-
ternehmungen und Erwartungen sind: da wird
es erst dem Dichter selbst, und dann auch dem
Zuschauer leichter, an die Stelle der Person zu
treten. Aber wo nun die Leidenschaft ruhig bloß
ihrer selbst genießt; wo sie nichts mehr zu wünschen
noch zu fürchten hat: da sinkt der Flug des Dich-
ters; seine Begeisterung wird matt, und mit ihm
erkaltet der Leser.

Auf eine doppelte Art aber können Leiden-
schaften wirksam seyn, entweder indem sie zu Ge-
danken Anlaß geben, oder indem sie Unterneh-
mungen und neue Begierden erzeugen. Ist die
Leidenschaft von der Art der stummen, so muß sie
unternehmend seyn; ist sie gelassen, so muß sie
beredt seyn: der Schmerz auf dem Theater ist ent-
weder Wehmuth oder Verzweiflung.

Aus dieser Regel haben einige neuere Kunst-
richter geschlossen, daß die ganz vollkommnen Cha-
raktere in der Dichtkunst nicht interessant seyn kön-
nen, weil sie nicht thätig genug sind. Aber ist
diese Entscheidung wohl richtig?

A a

uͤber das Intereſſirende.
rigkeiten zu uͤberwinden, Anſtalten zu machen, Un-
ternehmungen und Erwartungen ſind: da wird
es erſt dem Dichter ſelbſt, und dann auch dem
Zuſchauer leichter, an die Stelle der Perſon zu
treten. Aber wo nun die Leidenſchaft ruhig bloß
ihrer ſelbſt genießt; wo ſie nichts mehr zu wuͤnſchen
noch zu fuͤrchten hat: da ſinkt der Flug des Dich-
ters; ſeine Begeiſterung wird matt, und mit ihm
erkaltet der Leſer.

Auf eine doppelte Art aber koͤnnen Leiden-
ſchaften wirkſam ſeyn, entweder indem ſie zu Ge-
danken Anlaß geben, oder indem ſie Unterneh-
mungen und neue Begierden erzeugen. Iſt die
Leidenſchaft von der Art der ſtummen, ſo muß ſie
unternehmend ſeyn; iſt ſie gelaſſen, ſo muß ſie
beredt ſeyn: der Schmerz auf dem Theater iſt ent-
weder Wehmuth oder Verzweiflung.

Aus dieſer Regel haben einige neuere Kunſt-
richter geſchloſſen, daß die ganz vollkommnen Cha-
raktere in der Dichtkunſt nicht intereſſant ſeyn koͤn-
nen, weil ſie nicht thaͤtig genug ſind. Aber iſt
dieſe Entſcheidung wohl richtig?

A a
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[369/0375] uͤber das Intereſſirende. rigkeiten zu uͤberwinden, Anſtalten zu machen, Un- ternehmungen und Erwartungen ſind: da wird es erſt dem Dichter ſelbſt, und dann auch dem Zuſchauer leichter, an die Stelle der Perſon zu treten. Aber wo nun die Leidenſchaft ruhig bloß ihrer ſelbſt genießt; wo ſie nichts mehr zu wuͤnſchen noch zu fuͤrchten hat: da ſinkt der Flug des Dich- ters; ſeine Begeiſterung wird matt, und mit ihm erkaltet der Leſer. Auf eine doppelte Art aber koͤnnen Leiden- ſchaften wirkſam ſeyn, entweder indem ſie zu Ge- danken Anlaß geben, oder indem ſie Unterneh- mungen und neue Begierden erzeugen. Iſt die Leidenſchaft von der Art der ſtummen, ſo muß ſie unternehmend ſeyn; iſt ſie gelaſſen, ſo muß ſie beredt ſeyn: der Schmerz auf dem Theater iſt ent- weder Wehmuth oder Verzweiflung. Aus dieſer Regel haben einige neuere Kunſt- richter geſchloſſen, daß die ganz vollkommnen Cha- raktere in der Dichtkunſt nicht intereſſant ſeyn koͤn- nen, weil ſie nicht thaͤtig genug ſind. Aber iſt dieſe Entſcheidung wohl richtig? A a

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Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/375>, abgerufen am 08.05.2024.