Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

Einige Gedanken
ist an und für sich einer der traurigsten, die der
Menschheit wiederfahren können. Wenn er
wahr ist, oder bis zu einer Art von Täuschung
nachgeahmt werden kann: so findet er bey jedem
nicht ganz rohen oder verworfnen Menschen Mit-
leiden; und wenn er eine Person trift, die we-
gen ihres vorzüglichen Verstandes schäzbar, und
wegen ihrer anständigen Aufführung liebenswür-
dig war, so zerreißt er die Seele.

Ferner, so wie im Weine, so auch im Wahn-
witz ist oft die Wahrheit. Was der Mensch
sonst verbirgt, das entdeckt er alsdann. Er
handelt nicht mehr nach Absichten, sondern nach
Eingebungen. Eine edle Seele zeigt sich als-
dann noch gut, und erweckt noch mehr Mitlei-
den. Was Plato von den Träumen sagt, das
gilt auch von diesem unglücklichen Zustande, wo
der Mensch wachend träumt. Die Einbildun-
gen des Verrückten richten sich nach dem Cha-
rakter, den er bey gesundem Verstande gehabt
hat, und schildern denselben.

Unterdessen, so wie alle Kunstgriffe, die
nicht in der Natur der Sache selbst liegen, nur

Einige Gedanken
iſt an und fuͤr ſich einer der traurigſten, die der
Menſchheit wiederfahren koͤnnen. Wenn er
wahr iſt, oder bis zu einer Art von Taͤuſchung
nachgeahmt werden kann: ſo findet er bey jedem
nicht ganz rohen oder verworfnen Menſchen Mit-
leiden; und wenn er eine Perſon trift, die we-
gen ihres vorzuͤglichen Verſtandes ſchaͤzbar, und
wegen ihrer anſtaͤndigen Auffuͤhrung liebenswuͤr-
dig war, ſo zerreißt er die Seele.

Ferner, ſo wie im Weine, ſo auch im Wahn-
witz iſt oft die Wahrheit. Was der Menſch
ſonſt verbirgt, das entdeckt er alsdann. Er
handelt nicht mehr nach Abſichten, ſondern nach
Eingebungen. Eine edle Seele zeigt ſich als-
dann noch gut, und erweckt noch mehr Mitlei-
den. Was Plato von den Traͤumen ſagt, das
gilt auch von dieſem ungluͤcklichen Zuſtande, wo
der Menſch wachend traͤumt. Die Einbildun-
gen des Verruͤckten richten ſich nach dem Cha-
rakter, den er bey geſundem Verſtande gehabt
hat, und ſchildern denſelben.

Unterdeſſen, ſo wie alle Kunſtgriffe, die
nicht in der Natur der Sache ſelbſt liegen, nur

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0396" n="390"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Einige Gedanken</hi></fw><lb/>
i&#x017F;t an und fu&#x0364;r &#x017F;ich einer der traurig&#x017F;ten, die der<lb/>
Men&#x017F;chheit wiederfahren ko&#x0364;nnen. Wenn er<lb/>
wahr i&#x017F;t, oder bis zu einer Art von Ta&#x0364;u&#x017F;chung<lb/>
nachgeahmt werden kann: &#x017F;o findet er bey jedem<lb/>
nicht ganz rohen oder verworfnen Men&#x017F;chen Mit-<lb/>
leiden; und wenn er eine Per&#x017F;on trift, die we-<lb/>
gen ihres vorzu&#x0364;glichen Ver&#x017F;tandes &#x017F;cha&#x0364;zbar, und<lb/>
wegen ihrer an&#x017F;ta&#x0364;ndigen Auffu&#x0364;hrung liebenswu&#x0364;r-<lb/>
dig war, &#x017F;o zerreißt er die Seele.</p><lb/>
          <p>Ferner, &#x017F;o wie im Weine, &#x017F;o auch im Wahn-<lb/>
witz i&#x017F;t oft die Wahrheit. Was der Men&#x017F;ch<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t verbirgt, das entdeckt er alsdann. Er<lb/>
handelt nicht mehr nach Ab&#x017F;ichten, &#x017F;ondern nach<lb/>
Eingebungen. Eine edle Seele zeigt &#x017F;ich als-<lb/>
dann noch gut, und erweckt noch mehr Mitlei-<lb/>
den. Was Plato von den Tra&#x0364;umen &#x017F;agt, das<lb/>
gilt auch von die&#x017F;em unglu&#x0364;cklichen Zu&#x017F;tande, wo<lb/>
der Men&#x017F;ch wachend tra&#x0364;umt. Die Einbildun-<lb/>
gen des Verru&#x0364;ckten richten &#x017F;ich nach dem Cha-<lb/>
rakter, den er bey ge&#x017F;undem Ver&#x017F;tande gehabt<lb/>
hat, und &#x017F;childern den&#x017F;elben.</p><lb/>
          <p>Unterde&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o wie alle Kun&#x017F;tgriffe, die<lb/>
nicht in der Natur der Sache &#x017F;elb&#x017F;t liegen, nur<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[390/0396] Einige Gedanken iſt an und fuͤr ſich einer der traurigſten, die der Menſchheit wiederfahren koͤnnen. Wenn er wahr iſt, oder bis zu einer Art von Taͤuſchung nachgeahmt werden kann: ſo findet er bey jedem nicht ganz rohen oder verworfnen Menſchen Mit- leiden; und wenn er eine Perſon trift, die we- gen ihres vorzuͤglichen Verſtandes ſchaͤzbar, und wegen ihrer anſtaͤndigen Auffuͤhrung liebenswuͤr- dig war, ſo zerreißt er die Seele. Ferner, ſo wie im Weine, ſo auch im Wahn- witz iſt oft die Wahrheit. Was der Menſch ſonſt verbirgt, das entdeckt er alsdann. Er handelt nicht mehr nach Abſichten, ſondern nach Eingebungen. Eine edle Seele zeigt ſich als- dann noch gut, und erweckt noch mehr Mitlei- den. Was Plato von den Traͤumen ſagt, das gilt auch von dieſem ungluͤcklichen Zuſtande, wo der Menſch wachend traͤumt. Die Einbildun- gen des Verruͤckten richten ſich nach dem Cha- rakter, den er bey geſundem Verſtande gehabt hat, und ſchildern denſelben. Unterdeſſen, ſo wie alle Kunſtgriffe, die nicht in der Natur der Sache ſelbſt liegen, nur

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/396
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/396>, abgerufen am 08.05.2024.