Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 3. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite


Theile immer noch materiell und ausgedehnt vor, wie denn überhaupt der Begrif von reiner Einfachheit und Geistigkeit im ganzen Alterthum nicht vorkömmt, und selbst die Weltseele entweder blos materiell oder als eine in feine Materie eingekleidete Denkkraft angenommen wird.

Leucipp und Demokrit unternahmen es, die Körperwelt ohne Weltgeist, und ohne solche von ihm abstammende Kräfte zu erklären. Sie setzten dabey einen leeren Raum voraus, und leiteten das übrige blos aus ersten kleinsten Theilen oder Atomen her, denen sie nichts weiter, als die allgemeinen Eigenschaften der Materie, Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Schwere und Bewegung, beylegten. Daher sagt Diogenes (De vit. philos. IX. 72.) vom Demokrit, er habe die [fremdsprachliches Material] aus der Physik vertrieben. Darinn besteht auch allein das Eigne dieser sogenannten atomistischen Philosophie (physica corpuscularis), welche nachher von der epikureischen Schule angenommen, und von Lucrez in dem Gedichte De rerum natura mit vielen Zusätzen vorgetragen worden ist. Denn die Idee, daß die materielle Welt aus ersten Theilen bestehe, ist, wie Cudworth (System. intellect. ex edit. Moshemii. Jenae 1733. fol. To. I. p. 9.) erweiset, weit älter, als Leucipp, und mehrern Schulen mit der epikureischen gemein gewesen. Der Unterschied liegt nur darinn, daß die Epikuräer diese Atomen für nichts weiter, als Materie, erklärten, da ihnen die übrigen gewisse lebendige Kräfte beylegten. Daß Augustin (Epist. 56.) dem Demokrit die Meinung von beseelten Atomen beylegt, kömmt von einer übel verstandnen Stelle des Cicero (De nat. Deor. I. 38.) her, welche sich auf die [fremdsprachliches Material] dieses Weltweisen, und gar nicht auf die Atomen bezieht. Daß dieses System von Epikur und Lucrez mit Ideen verbunden ward, welche auf den Atheismus führten, ist zufällig und kan dem Hauptbegriffe desselben nicht zum Vorwurfe gereichen. Gassendi hat es hievou zu teinigen, den leeren Raum gegen die Peripatetiker zu vertheidigen, und die Physik gan; mechanisch aus den Figuren und andern Eigenschaften blos materieller Atomen


Theile immer noch materiell und ausgedehnt vor, wie denn uͤberhaupt der Begrif von reiner Einfachheit und Geiſtigkeit im ganzen Alterthum nicht vorkoͤmmt, und ſelbſt die Weltſeele entweder blos materiell oder als eine in feine Materie eingekleidete Denkkraft angenommen wird.

Leucipp und Demokrit unternahmen es, die Koͤrperwelt ohne Weltgeiſt, und ohne ſolche von ihm abſtammende Kraͤfte zu erklaͤren. Sie ſetzten dabey einen leeren Raum voraus, und leiteten das uͤbrige blos aus erſten kleinſten Theilen oder Atomen her, denen ſie nichts weiter, als die allgemeinen Eigenſchaften der Materie, Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Schwere und Bewegung, beylegten. Daher ſagt Diogenes (De vit. philoſ. IX. 72.) vom Demokrit, er habe die [fremdsprachliches Material] aus der Phyſik vertrieben. Darinn beſteht auch allein das Eigne dieſer ſogenannten atomiſtiſchen Philoſophie (phyſica corpuſcularis), welche nachher von der epikureiſchen Schule angenommen, und von Lucrez in dem Gedichte De rerum natura mit vielen Zuſaͤtzen vorgetragen worden iſt. Denn die Idee, daß die materielle Welt aus erſten Theilen beſtehe, iſt, wie Cudworth (Syſtem. intellect. ex edit. Moshemii. Jenae 1733. fol. To. I. p. 9.) erweiſet, weit aͤlter, als Leucipp, und mehrern Schulen mit der epikureiſchen gemein geweſen. Der Unterſchied liegt nur darinn, daß die Epikuraͤer dieſe Atomen fuͤr nichts weiter, als Materie, erklaͤrten, da ihnen die uͤbrigen gewiſſe lebendige Kraͤfte beylegten. Daß Auguſtin (Epiſt. 56.) dem Demokrit die Meinung von beſeelten Atomen beylegt, koͤmmt von einer uͤbel verſtandnen Stelle des Cicero (De nat. Deor. I. 38.) her, welche ſich auf die [fremdsprachliches Material] dieſes Weltweiſen, und gar nicht auf die Atomen bezieht. Dàß dieſes Syſtem von Epikur und Lucrez mit Ideen verbunden ward, welche auf den Atheiſmus fuͤhrten, iſt zufaͤllig und kan dem Hauptbegriffe deſſelben nicht zum Vorwurfe gereichen. Gaſſendi hat es hievou zu teinigen, den leeren Raum gegen die Peripatetiker zu vertheidigen, und die Phyſik gan; mechaniſch aus den Figuren und andern Eigenſchaften blos materieller Atomen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0154" xml:id="P.3.148" n="148"/><lb/>
Theile immer noch materiell und ausgedehnt vor, wie denn u&#x0364;berhaupt der Begrif von reiner Einfachheit und Gei&#x017F;tigkeit im ganzen Alterthum nicht vorko&#x0364;mmt, und &#x017F;elb&#x017F;t die Welt&#x017F;eele entweder blos materiell oder als eine in feine Materie eingekleidete Denkkraft angenommen wird.</p>
            <p><hi rendition="#b">Leucipp</hi> und <hi rendition="#b">Demokrit</hi> unternahmen es, die Ko&#x0364;rperwelt ohne Weltgei&#x017F;t, und ohne &#x017F;olche von ihm ab&#x017F;tammende Kra&#x0364;fte zu erkla&#x0364;ren. Sie &#x017F;etzten dabey einen leeren Raum voraus, und leiteten das u&#x0364;brige blos aus er&#x017F;ten klein&#x017F;ten Theilen oder <hi rendition="#b">Atomen</hi> her, denen &#x017F;ie nichts weiter, als die allgemeinen Eigen&#x017F;chaften der Materie, Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Schwere und Bewegung, beylegten. Daher &#x017F;agt <hi rendition="#b">Diogenes</hi> <hi rendition="#aq">(De vit. philo&#x017F;. IX. 72.)</hi> vom <hi rendition="#b">Demokrit,</hi> er habe die <foreign xml:lang="grc"><gap reason="fm"/><note type="editorial">poiothtas</note></foreign> aus der Phy&#x017F;ik vertrieben. Darinn be&#x017F;teht auch allein das Eigne die&#x017F;er &#x017F;ogenannten atomi&#x017F;ti&#x017F;chen <hi rendition="#b">Philo&#x017F;ophie</hi> <hi rendition="#aq">(phy&#x017F;ica corpu&#x017F;cularis),</hi> welche nachher von der epikurei&#x017F;chen Schule angenommen, und von <hi rendition="#b">Lucrez</hi> in dem Gedichte <hi rendition="#aq">De rerum natura</hi> mit vielen Zu&#x017F;a&#x0364;tzen vorgetragen worden i&#x017F;t. Denn die Idee, daß die materielle Welt aus er&#x017F;ten Theilen be&#x017F;tehe, i&#x017F;t, wie <hi rendition="#b">Cudworth</hi> <hi rendition="#aq">(Sy&#x017F;tem. intellect. ex edit. <hi rendition="#i">Moshemii.</hi> Jenae 1733. fol. To. I. p. 9.)</hi> erwei&#x017F;et, weit a&#x0364;lter, als Leucipp, und mehrern Schulen mit der epikurei&#x017F;chen gemein gewe&#x017F;en. Der Unter&#x017F;chied liegt nur darinn, daß die Epikura&#x0364;er die&#x017F;e Atomen fu&#x0364;r nichts weiter, als Materie, erkla&#x0364;rten, da ihnen die u&#x0364;brigen gewi&#x017F;&#x017F;e lebendige Kra&#x0364;fte beylegten. <hi rendition="#b">Daß Augu&#x017F;tin</hi> <hi rendition="#aq">(Epi&#x017F;t. 56.)</hi> dem Demokrit die Meinung von be&#x017F;eelten Atomen beylegt, ko&#x0364;mmt von einer u&#x0364;bel ver&#x017F;tandnen Stelle des <hi rendition="#b">Cicero</hi> <hi rendition="#aq">(De nat. Deor. I. 38.)</hi> her,  welche &#x017F;ich auf die <foreign xml:lang="grc"><gap reason="fm"/><note type="editorial">ei)dwla</note></foreign> die&#x017F;es Weltwei&#x017F;en, und gar nicht auf die Atomen bezieht. Dàß die&#x017F;es Sy&#x017F;tem von Epikur und Lucrez mit Ideen verbunden ward, welche auf den Athei&#x017F;mus fu&#x0364;hrten, i&#x017F;t zufa&#x0364;llig und kan dem Hauptbegriffe de&#x017F;&#x017F;elben nicht zum Vorwurfe gereichen. <hi rendition="#b">Ga&#x017F;&#x017F;endi</hi> hat es hievou zu teinigen, den leeren Raum gegen die Peripatetiker zu vertheidigen, und die Phy&#x017F;ik gan; mechani&#x017F;ch aus den Figuren und andern Eigen&#x017F;chaften blos materieller Atomen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[148/0154] Theile immer noch materiell und ausgedehnt vor, wie denn uͤberhaupt der Begrif von reiner Einfachheit und Geiſtigkeit im ganzen Alterthum nicht vorkoͤmmt, und ſelbſt die Weltſeele entweder blos materiell oder als eine in feine Materie eingekleidete Denkkraft angenommen wird. Leucipp und Demokrit unternahmen es, die Koͤrperwelt ohne Weltgeiſt, und ohne ſolche von ihm abſtammende Kraͤfte zu erklaͤren. Sie ſetzten dabey einen leeren Raum voraus, und leiteten das uͤbrige blos aus erſten kleinſten Theilen oder Atomen her, denen ſie nichts weiter, als die allgemeinen Eigenſchaften der Materie, Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Schwere und Bewegung, beylegten. Daher ſagt Diogenes (De vit. philoſ. IX. 72.) vom Demokrit, er habe die _ aus der Phyſik vertrieben. Darinn beſteht auch allein das Eigne dieſer ſogenannten atomiſtiſchen Philoſophie (phyſica corpuſcularis), welche nachher von der epikureiſchen Schule angenommen, und von Lucrez in dem Gedichte De rerum natura mit vielen Zuſaͤtzen vorgetragen worden iſt. Denn die Idee, daß die materielle Welt aus erſten Theilen beſtehe, iſt, wie Cudworth (Syſtem. intellect. ex edit. Moshemii. Jenae 1733. fol. To. I. p. 9.) erweiſet, weit aͤlter, als Leucipp, und mehrern Schulen mit der epikureiſchen gemein geweſen. Der Unterſchied liegt nur darinn, daß die Epikuraͤer dieſe Atomen fuͤr nichts weiter, als Materie, erklaͤrten, da ihnen die uͤbrigen gewiſſe lebendige Kraͤfte beylegten. Daß Auguſtin (Epiſt. 56.) dem Demokrit die Meinung von beſeelten Atomen beylegt, koͤmmt von einer uͤbel verſtandnen Stelle des Cicero (De nat. Deor. I. 38.) her, welche ſich auf die _ dieſes Weltweiſen, und gar nicht auf die Atomen bezieht. Dàß dieſes Syſtem von Epikur und Lucrez mit Ideen verbunden ward, welche auf den Atheiſmus fuͤhrten, iſt zufaͤllig und kan dem Hauptbegriffe deſſelben nicht zum Vorwurfe gereichen. Gaſſendi hat es hievou zu teinigen, den leeren Raum gegen die Peripatetiker zu vertheidigen, und die Phyſik gan; mechaniſch aus den Figuren und andern Eigenſchaften blos materieller Atomen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte : Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-02T12:13:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-09-02T12:13:09Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): keine Angabe; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: keine Angabe; Zeichensetzung: keine Angabe; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch03_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch03_1798/154
Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 3. Leipzig, 1798, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch03_1798/154>, abgerufen am 28.04.2024.