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Gerber, Carl Friedrich von: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht. Leipzig, 1865.

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Zweiter Abschnitt.
Thatsache, dass das Volk in allen seinen Gliedern zu
einem einheitlichen politischen Ganzen verschmolzen ist,
welches von einer und derselben Staatsgewalt gleich-
mässig beherrscht wird, und dass auf der Grundlage des
so geeinten Volks, in welchem isolirte staatsfeindliche
Existenzen nicht geduldet werden, der Staat selbst als
rechtlicher Gesammtorganismus erwachsen ist. Die heu-
tigen Landstände sind ein Glied dieses Organismus,
welchem eine seiner wichtigsten Lebensfunctionen ver-
traut ist. 8 Ihre Aufgabe ist, unter dem Herrscherwillen
des Monarchen den Antheil des Volks an der Bestim-

wo nicht eine, sondern gegen dreissig Volksvertretungen herzu-
stellen waren, hat man diesen Punkt sehr unterschätzt, und sich
daran gewöhnt, Abänderungen des Wahlrechts verhältnissmässig
leicht zu nehmen.
8 Eine wahrhaft organische Stellung würde die Ständever-
sammlung freilich erst dann haben, wenn sie nicht als ein isolirtes
Volksinstitut bestände, sondern von einer Reihe anderer auf volks-
thümlicher Selbstverwaltung beruhender Einrichtungen umgeben
wäre, als deren Centrum sie sich gewissermassen darstellte. In
Deutschland sind die Landstände ohne Weiteres in ein Staats-
wesen aufgenommen worden, das sich durch ein ausgebildetes
Beamtenthum characterisirt, und haben ihr rechtes Verhältniss
hierzu noch nicht gefunden; die Institute der in manchen Ländern
vorkommenden Provinzialstände, des Bayerischen Landraths, der
Württembergischen Amtscorporation haben bis jetzt ihren Beruf
der Ergänzung und Ausgleichung noch nicht genügend erfüllen
können. In den kleineren Staaten treten die Missverhältnisse
dieser Situation weniger schroff hervor, sowie diese überhaupt
nicht der Platz sind, auf welchem die Frage über die Ausführ-
barkeit principieller Gestaltungen zum Austrage zu kommen pflegt.
Den grossen deutschen Staaten dagegen, in denen das neue
Princip in seiner vollen Wucht und ungehemmten Wirksamkeit in
Geltung tritt, werden die Krisen nicht erspart bleiben, welche sich
an jenes Verhältniss anknüpfen und neue, die Zukunft des consti-
tutionellen Systems bestimmende Entwickelungen hervorrufen
werden.

Zweiter Abschnitt.
Thatsache, dass das Volk in allen seinen Gliedern zu
einem einheitlichen politischen Ganzen verschmolzen ist,
welches von einer und derselben Staatsgewalt gleich-
mässig beherrscht wird, und dass auf der Grundlage des
so geeinten Volks, in welchem isolirte staatsfeindliche
Existenzen nicht geduldet werden, der Staat selbst als
rechtlicher Gesammtorganismus erwachsen ist. Die heu-
tigen Landstände sind ein Glied dieses Organismus,
welchem eine seiner wichtigsten Lebensfunctionen ver-
traut ist. 8 Ihre Aufgabe ist, unter dem Herrscherwillen
des Monarchen den Antheil des Volks an der Bestim-

wo nicht eine, sondern gegen dreissig Volksvertretungen herzu-
stellen waren, hat man diesen Punkt sehr unterschätzt, und sich
daran gewöhnt, Abänderungen des Wahlrechts verhältnissmässig
leicht zu nehmen.
8 Eine wahrhaft organische Stellung würde die Ständever-
sammlung freilich erst dann haben, wenn sie nicht als ein isolirtes
Volksinstitut bestände, sondern von einer Reihe anderer auf volks-
thümlicher Selbstverwaltung beruhender Einrichtungen umgeben
wäre, als deren Centrum sie sich gewissermassen darstellte. In
Deutschland sind die Landstände ohne Weiteres in ein Staats-
wesen aufgenommen worden, das sich durch ein ausgebildetes
Beamtenthum characterisirt, und haben ihr rechtes Verhältniss
hierzu noch nicht gefunden; die Institute der in manchen Ländern
vorkommenden Provinzialstände, des Bayerischen Landraths, der
Württembergischen Amtscorporation haben bis jetzt ihren Beruf
der Ergänzung und Ausgleichung noch nicht genügend erfüllen
können. In den kleineren Staaten treten die Missverhältnisse
dieser Situation weniger schroff hervor, sowie diese überhaupt
nicht der Platz sind, auf welchem die Frage über die Ausführ-
barkeit principieller Gestaltungen zum Austrage zu kommen pflegt.
Den grossen deutschen Staaten dagegen, in denen das neue
Princip in seiner vollen Wucht und ungehemmten Wirksamkeit in
Geltung tritt, werden die Krisen nicht erspart bleiben, welche sich
an jenes Verhältniss anknüpfen und neue, die Zukunft des consti-
tutionellen Systems bestimmende Entwickelungen hervorrufen
werden.
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[122/0140] Zweiter Abschnitt. Thatsache, dass das Volk in allen seinen Gliedern zu einem einheitlichen politischen Ganzen verschmolzen ist, welches von einer und derselben Staatsgewalt gleich- mässig beherrscht wird, und dass auf der Grundlage des so geeinten Volks, in welchem isolirte staatsfeindliche Existenzen nicht geduldet werden, der Staat selbst als rechtlicher Gesammtorganismus erwachsen ist. Die heu- tigen Landstände sind ein Glied dieses Organismus, welchem eine seiner wichtigsten Lebensfunctionen ver- traut ist. 8 Ihre Aufgabe ist, unter dem Herrscherwillen des Monarchen den Antheil des Volks an der Bestim- 7 8 Eine wahrhaft organische Stellung würde die Ständever- sammlung freilich erst dann haben, wenn sie nicht als ein isolirtes Volksinstitut bestände, sondern von einer Reihe anderer auf volks- thümlicher Selbstverwaltung beruhender Einrichtungen umgeben wäre, als deren Centrum sie sich gewissermassen darstellte. In Deutschland sind die Landstände ohne Weiteres in ein Staats- wesen aufgenommen worden, das sich durch ein ausgebildetes Beamtenthum characterisirt, und haben ihr rechtes Verhältniss hierzu noch nicht gefunden; die Institute der in manchen Ländern vorkommenden Provinzialstände, des Bayerischen Landraths, der Württembergischen Amtscorporation haben bis jetzt ihren Beruf der Ergänzung und Ausgleichung noch nicht genügend erfüllen können. In den kleineren Staaten treten die Missverhältnisse dieser Situation weniger schroff hervor, sowie diese überhaupt nicht der Platz sind, auf welchem die Frage über die Ausführ- barkeit principieller Gestaltungen zum Austrage zu kommen pflegt. Den grossen deutschen Staaten dagegen, in denen das neue Princip in seiner vollen Wucht und ungehemmten Wirksamkeit in Geltung tritt, werden die Krisen nicht erspart bleiben, welche sich an jenes Verhältniss anknüpfen und neue, die Zukunft des consti- tutionellen Systems bestimmende Entwickelungen hervorrufen werden. 7 wo nicht eine, sondern gegen dreissig Volksvertretungen herzu- stellen waren, hat man diesen Punkt sehr unterschätzt, und sich daran gewöhnt, Abänderungen des Wahlrechts verhältnissmässig leicht zu nehmen.

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Zitationshilfe: Gerber, Carl Friedrich von: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht. Leipzig, 1865, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerber_staatsrecht_1865/140>, abgerufen am 29.04.2024.