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Gerber, Carl Friedrich von: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht. Leipzig, 1865.

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§. 6. Entstehung staatsrechtlicher Rechtssätze etc.
der in der Sphäre des fraglichen Rechtssatzes ausschliess-
lich oder hauptsächlich zur Thätigkeit berufen ist.7 Im-

7 Hier werden demnach namentlich Uebungshandlungen des
Monarchen, der Stände und der Vertreter der Regierung, nach
Umständen auch gewöhnlicher Behörden in Frage kommen. Nur
dürfen diese Handlungen nie anders denn als die (allerdings be-
festigenden) Symptome einer über ihnen stehenden Rechtsüber-
zeugung angesehen werden, also niemals so, als wären sie selbst
die rechtserzeugenden Momente. Ebenso dürfen jene Behörden
und Stände nicht so aufgefasst werden, als wäre das "Recht-
machen" in diesen Handlungen ihr amtlicher Beruf; es tritt nur
an und in letzteren die nationale Rechtsüberzeugung zu Tage.
Vor Allem aber sind diejenigen Handlungen auszuscheiden, wel-
che den Character einer bewussten, wenn auch stillschweigenden
Connivenz haben, z. B. wenn zwei Kammern stillschweigend über-
einkommen, auf die bezüglich ihres gegenseitigen Verhältnisses
durch die Verfassung gegebenen Ansprüche (z. B. die Forderung
eines Zusammentritts beider Kammern in gewissen Fällen) zu ver-
zichten. Endlich gehört auch nicht hierher die Entscheidung
(das Präjudiz) einer Behörde, wo der Grund derselben die eigen-
thümliche Auffassung eines bestehenden Gesetzes ist, die Ent-
scheidung also sofort sich ändern würde, wenn ein Bewusstsein
der Irrthümlichkeit dieser Auffassung einträte. Freilich kann
hieraus ein Gewohnheitsrecht werden, d. h. der Inhalt der Ent-
scheidung in die Volksüberzeugung übergehen und damit ein ganz
neues Fundament gewinnen. So war z. B. der Satz des (früheren)
Württembergischen Staatsrechts zu beurtheilen, dass die Ab-
setzung der Kirchendiener nach Analogie der Bestimmung über
die Absetzung der Staatsdiener behandelt werde, ein Satz, der
ursprünglich auf eine Auslegung des §. 47. der Württembergischen
Verfassungsurkunde gestützt wurde ("Beamten der Gemeinden
und anderer Corporationen"). Als Beispiel eines staatsrecht-
lichen Gewohnheitsrechts mag noch folgendes angeführt werden,
dass hie und da der Monarch Rechtssätze, welche einen herkömm-
lichen Bestandtheil gewisser Privilegien bilden (z. B. der Schutz
der Leihhäuser gegen die Vindication) für bestimmte Berechtigte
ohne Concurrenz der Stände festsetzen darf. Ein besonders
reiches Gebiet von Gewohnheitsrechtssätzen, welche in der Ue-
bung der Stände hervortreten, sind die die Wählbarkeit und Le-
gitimation der Ständemitglieder betreffenden Sätze.

§. 6. Entstehung staatsrechtlicher Rechtssätze etc.
der in der Sphäre des fraglichen Rechtssatzes ausschliess-
lich oder hauptsächlich zur Thätigkeit berufen ist.7 Im-

7 Hier werden demnach namentlich Uebungshandlungen des
Monarchen, der Stände und der Vertreter der Regierung, nach
Umständen auch gewöhnlicher Behörden in Frage kommen. Nur
dürfen diese Handlungen nie anders denn als die (allerdings be-
festigenden) Symptome einer über ihnen stehenden Rechtsüber-
zeugung angesehen werden, also niemals so, als wären sie selbst
die rechtserzeugenden Momente. Ebenso dürfen jene Behörden
und Stände nicht so aufgefasst werden, als wäre das „Recht-
machen“ in diesen Handlungen ihr amtlicher Beruf; es tritt nur
an und in letzteren die nationale Rechtsüberzeugung zu Tage.
Vor Allem aber sind diejenigen Handlungen auszuscheiden, wel-
che den Character einer bewussten, wenn auch stillschweigenden
Connivenz haben, z. B. wenn zwei Kammern stillschweigend über-
einkommen, auf die bezüglich ihres gegenseitigen Verhältnisses
durch die Verfassung gegebenen Ansprüche (z. B. die Forderung
eines Zusammentritts beider Kammern in gewissen Fällen) zu ver-
zichten. Endlich gehört auch nicht hierher die Entscheidung
(das Präjudiz) einer Behörde, wo der Grund derselben die eigen-
thümliche Auffassung eines bestehenden Gesetzes ist, die Ent-
scheidung also sofort sich ändern würde, wenn ein Bewusstsein
der Irrthümlichkeit dieser Auffassung einträte. Freilich kann
hieraus ein Gewohnheitsrecht werden, d. h. der Inhalt der Ent-
scheidung in die Volksüberzeugung übergehen und damit ein ganz
neues Fundament gewinnen. So war z. B. der Satz des (früheren)
Württembergischen Staatsrechts zu beurtheilen, dass die Ab-
setzung der Kirchendiener nach Analogie der Bestimmung über
die Absetzung der Staatsdiener behandelt werde, ein Satz, der
ursprünglich auf eine Auslegung des §. 47. der Württembergischen
Verfassungsurkunde gestützt wurde („Beamten der Gemeinden
und anderer Corporationen“). Als Beispiel eines staatsrecht-
lichen Gewohnheitsrechts mag noch folgendes angeführt werden,
dass hie und da der Monarch Rechtssätze, welche einen herkömm-
lichen Bestandtheil gewisser Privilegien bilden (z. B. der Schutz
der Leihhäuser gegen die Vindication) für bestimmte Berechtigte
ohne Concurrenz der Stände festsetzen darf. Ein besonders
reiches Gebiet von Gewohnheitsrechtssätzen, welche in der Ue-
bung der Stände hervortreten, sind die die Wählbarkeit und Le-
gitimation der Ständemitglieder betreffenden Sätze.
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[15/0033] §. 6. Entstehung staatsrechtlicher Rechtssätze etc. der in der Sphäre des fraglichen Rechtssatzes ausschliess- lich oder hauptsächlich zur Thätigkeit berufen ist. 7 Im- 7 Hier werden demnach namentlich Uebungshandlungen des Monarchen, der Stände und der Vertreter der Regierung, nach Umständen auch gewöhnlicher Behörden in Frage kommen. Nur dürfen diese Handlungen nie anders denn als die (allerdings be- festigenden) Symptome einer über ihnen stehenden Rechtsüber- zeugung angesehen werden, also niemals so, als wären sie selbst die rechtserzeugenden Momente. Ebenso dürfen jene Behörden und Stände nicht so aufgefasst werden, als wäre das „Recht- machen“ in diesen Handlungen ihr amtlicher Beruf; es tritt nur an und in letzteren die nationale Rechtsüberzeugung zu Tage. Vor Allem aber sind diejenigen Handlungen auszuscheiden, wel- che den Character einer bewussten, wenn auch stillschweigenden Connivenz haben, z. B. wenn zwei Kammern stillschweigend über- einkommen, auf die bezüglich ihres gegenseitigen Verhältnisses durch die Verfassung gegebenen Ansprüche (z. B. die Forderung eines Zusammentritts beider Kammern in gewissen Fällen) zu ver- zichten. Endlich gehört auch nicht hierher die Entscheidung (das Präjudiz) einer Behörde, wo der Grund derselben die eigen- thümliche Auffassung eines bestehenden Gesetzes ist, die Ent- scheidung also sofort sich ändern würde, wenn ein Bewusstsein der Irrthümlichkeit dieser Auffassung einträte. Freilich kann hieraus ein Gewohnheitsrecht werden, d. h. der Inhalt der Ent- scheidung in die Volksüberzeugung übergehen und damit ein ganz neues Fundament gewinnen. So war z. B. der Satz des (früheren) Württembergischen Staatsrechts zu beurtheilen, dass die Ab- setzung der Kirchendiener nach Analogie der Bestimmung über die Absetzung der Staatsdiener behandelt werde, ein Satz, der ursprünglich auf eine Auslegung des §. 47. der Württembergischen Verfassungsurkunde gestützt wurde („Beamten der Gemeinden und anderer Corporationen“). Als Beispiel eines staatsrecht- lichen Gewohnheitsrechts mag noch folgendes angeführt werden, dass hie und da der Monarch Rechtssätze, welche einen herkömm- lichen Bestandtheil gewisser Privilegien bilden (z. B. der Schutz der Leihhäuser gegen die Vindication) für bestimmte Berechtigte ohne Concurrenz der Stände festsetzen darf. Ein besonders reiches Gebiet von Gewohnheitsrechtssätzen, welche in der Ue- bung der Stände hervortreten, sind die die Wählbarkeit und Le- gitimation der Ständemitglieder betreffenden Sätze.

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Zitationshilfe: Gerber, Carl Friedrich von: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht. Leipzig, 1865, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerber_staatsrecht_1865/33>, abgerufen am 29.04.2024.