Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868.höher früher die Kultur des zerstörten Staates gestanden hatte; eine solche Demoralisation musste aber gerade in einer Zeit einer so allgemeinen Zerstörung, wo für die Unterliegenden weder leiblich noch geistig irgend ein Halt blieb, die unheilvollsten Folgen für ihr ganzes Dasein haben und nicht wenige in den genannten Kulturstaaten sind denn auch gerade durch die unter den Eingebornen einreissende Zügellosigkeit zu Grunde gegangen. Und je tiefer, je persönlich vernichtender die Angriffe waren, um so mehr natürlich demoralisirten sie die Völker: was sollten die noch irgend etwas scheuen und heilig halten, welche selbst in ihrem Heiligsten verletzt waren? wie konnten sie noch sich selbst achten, die von jenen ankommenden Göttern so in Staub getreten wurden? Ueberall riss in Folge der auf diese Weise nahenden Kultur Entsittlichung und dadurch immer tieferes geistiges und leibliches Sinken unter den Naturvölkern ein. Was nicht unmittelbar vernichtet wurde, das wurde im Innersten vergiftet und langsames Hinsiechen war die nothwendige Folge. § 15. Schwierigkeit für die Naturvölker, die
moderne Kultur sich anzueignen. Aber wenn auch die europäische Kultur den Naturvölkern mit vollkommener Freundlichkeit und Schonung zugeführt worden wäre: diese Kultur bot auch noch ausser denen, welche wir schon gesehen haben, die grössten Schwierigkeiten und Gefahren, die wir jetzt betrachten müssen. War es schon keine Kleinigkeit, dass diese Völker fast alle ihre seit Jahrhunderten eigenthümlichen Ideen und Anschauungen aufgeben mussten, so war es noch viel schwieriger, das aufzunehmen, was die Europäer brachten, die ganze unendlich verwickelte moderne Kultur! Das traf besonders Polynesien und Australien; man denke sich die kleinen Kokosinseln, die nun plötzlich sich hineinfinden müssen in die ganze europäische Lebensart, in den europäischen Handel, das europäische Recht, die Religion und so vieles andere -- und sie müssen mehr als nur oberflächliches davon annehmen, wenn sie nicht verloren sein wollen. Um wie viel glücklicher waren auch hierin die Germanen, die sehr allmählich eine viel weniger verwickelte Kultur aufzunehmen hatten; und doch wie lange Zeit brauchten auch sie, bis sie diese Kultur vollkommen sich assimilirt hatten! Ist es zu viel gesagt, wenn man behauptet, dass dies erst im vorigen Jahrhundert durch das geistige Durchdringen des Alterthums ganz geschehen sei? Einzelne Punkte -- denn vieles (Wohnung, Kleidung u. s. w.) höher früher die Kultur des zerstörten Staates gestanden hatte; eine solche Demoralisation musste aber gerade in einer Zeit einer so allgemeinen Zerstörung, wo für die Unterliegenden weder leiblich noch geistig irgend ein Halt blieb, die unheilvollsten Folgen für ihr ganzes Dasein haben und nicht wenige in den genannten Kulturstaaten sind denn auch gerade durch die unter den Eingebornen einreissende Zügellosigkeit zu Grunde gegangen. Und je tiefer, je persönlich vernichtender die Angriffe waren, um so mehr natürlich demoralisirten sie die Völker: was sollten die noch irgend etwas scheuen und heilig halten, welche selbst in ihrem Heiligsten verletzt waren? wie konnten sie noch sich selbst achten, die von jenen ankommenden Göttern so in Staub getreten wurden? Ueberall riss in Folge der auf diese Weise nahenden Kultur Entsittlichung und dadurch immer tieferes geistiges und leibliches Sinken unter den Naturvölkern ein. Was nicht unmittelbar vernichtet wurde, das wurde im Innersten vergiftet und langsames Hinsiechen war die nothwendige Folge. § 15. Schwierigkeit für die Naturvölker, die
moderne Kultur sich anzueignen. Aber wenn auch die europäische Kultur den Naturvölkern mit vollkommener Freundlichkeit und Schonung zugeführt worden wäre: diese Kultur bot auch noch ausser denen, welche wir schon gesehen haben, die grössten Schwierigkeiten und Gefahren, die wir jetzt betrachten müssen. War es schon keine Kleinigkeit, dass diese Völker fast alle ihre seit Jahrhunderten eigenthümlichen Ideen und Anschauungen aufgeben mussten, so war es noch viel schwieriger, das aufzunehmen, was die Europäer brachten, die ganze unendlich verwickelte moderne Kultur! Das traf besonders Polynesien und Australien; man denke sich die kleinen Kokosinseln, die nun plötzlich sich hineinfinden müssen in die ganze europäische Lebensart, in den europäischen Handel, das europäische Recht, die Religion und so vieles andere — und sie müssen mehr als nur oberflächliches davon annehmen, wenn sie nicht verloren sein wollen. Um wie viel glücklicher waren auch hierin die Germanen, die sehr allmählich eine viel weniger verwickelte Kultur aufzunehmen hatten; und doch wie lange Zeit brauchten auch sie, bis sie diese Kultur vollkommen sich assimilirt hatten! Ist es zu viel gesagt, wenn man behauptet, dass dies erst im vorigen Jahrhundert durch das geistige Durchdringen des Alterthums ganz geschehen sei? Einzelne Punkte — denn vieles (Wohnung, Kleidung u. s. w.) <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0107"/> höher früher die Kultur des zerstörten Staates gestanden hatte; eine solche Demoralisation musste aber gerade in einer Zeit einer so allgemeinen Zerstörung, wo für die Unterliegenden weder leiblich noch geistig irgend ein Halt blieb, die unheilvollsten Folgen für ihr ganzes Dasein haben und nicht wenige in den genannten Kulturstaaten sind denn auch gerade durch die unter den Eingebornen einreissende Zügellosigkeit zu Grunde gegangen. Und je tiefer, je persönlich vernichtender die Angriffe waren, um so mehr natürlich demoralisirten sie die Völker: was sollten die noch irgend etwas scheuen und heilig halten, welche selbst in ihrem Heiligsten verletzt waren? wie konnten sie noch sich selbst achten, die von jenen ankommenden Göttern so in Staub getreten wurden? Ueberall riss in Folge der auf diese Weise nahenden Kultur Entsittlichung und dadurch immer tieferes geistiges und leibliches Sinken unter den Naturvölkern ein. Was nicht unmittelbar vernichtet wurde, das wurde im Innersten vergiftet und langsames Hinsiechen war die nothwendige Folge.</p> </div> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div n="1"> <head>§ 15. <hi rendition="#i">Schwierigkeit für die Naturvölker, die moderne Kultur sich anzueignen.</hi></head><lb/> <p>Aber wenn auch die europäische Kultur den Naturvölkern mit vollkommener Freundlichkeit und Schonung zugeführt worden wäre: diese Kultur bot auch noch ausser denen, welche wir schon gesehen haben, die grössten Schwierigkeiten und Gefahren, die wir jetzt betrachten müssen.</p> <p>War es schon keine Kleinigkeit, dass diese Völker fast alle ihre seit Jahrhunderten eigenthümlichen Ideen und Anschauungen aufgeben mussten, so war es noch viel schwieriger, das aufzunehmen, was die Europäer brachten, die ganze unendlich verwickelte moderne Kultur! Das traf besonders Polynesien und Australien; man denke sich die kleinen Kokosinseln, die nun plötzlich sich hineinfinden müssen in die ganze europäische Lebensart, in den europäischen Handel, das europäische Recht, die Religion und so vieles andere — und sie müssen mehr als nur oberflächliches davon annehmen, wenn sie nicht verloren sein wollen. Um wie viel glücklicher waren auch hierin die Germanen, die sehr allmählich eine viel weniger verwickelte Kultur aufzunehmen hatten; und doch wie lange Zeit brauchten auch sie, bis sie diese Kultur vollkommen sich assimilirt hatten! Ist es zu viel gesagt, wenn man behauptet, dass dies erst im vorigen Jahrhundert durch das geistige Durchdringen des Alterthums ganz geschehen sei?</p> <p>Einzelne Punkte — denn vieles (Wohnung, Kleidung u. s. w.) </p> </div> </body> </text> </TEI> [0107]
höher früher die Kultur des zerstörten Staates gestanden hatte; eine solche Demoralisation musste aber gerade in einer Zeit einer so allgemeinen Zerstörung, wo für die Unterliegenden weder leiblich noch geistig irgend ein Halt blieb, die unheilvollsten Folgen für ihr ganzes Dasein haben und nicht wenige in den genannten Kulturstaaten sind denn auch gerade durch die unter den Eingebornen einreissende Zügellosigkeit zu Grunde gegangen. Und je tiefer, je persönlich vernichtender die Angriffe waren, um so mehr natürlich demoralisirten sie die Völker: was sollten die noch irgend etwas scheuen und heilig halten, welche selbst in ihrem Heiligsten verletzt waren? wie konnten sie noch sich selbst achten, die von jenen ankommenden Göttern so in Staub getreten wurden? Ueberall riss in Folge der auf diese Weise nahenden Kultur Entsittlichung und dadurch immer tieferes geistiges und leibliches Sinken unter den Naturvölkern ein. Was nicht unmittelbar vernichtet wurde, das wurde im Innersten vergiftet und langsames Hinsiechen war die nothwendige Folge.
§ 15. Schwierigkeit für die Naturvölker, die moderne Kultur sich anzueignen.
Aber wenn auch die europäische Kultur den Naturvölkern mit vollkommener Freundlichkeit und Schonung zugeführt worden wäre: diese Kultur bot auch noch ausser denen, welche wir schon gesehen haben, die grössten Schwierigkeiten und Gefahren, die wir jetzt betrachten müssen.
War es schon keine Kleinigkeit, dass diese Völker fast alle ihre seit Jahrhunderten eigenthümlichen Ideen und Anschauungen aufgeben mussten, so war es noch viel schwieriger, das aufzunehmen, was die Europäer brachten, die ganze unendlich verwickelte moderne Kultur! Das traf besonders Polynesien und Australien; man denke sich die kleinen Kokosinseln, die nun plötzlich sich hineinfinden müssen in die ganze europäische Lebensart, in den europäischen Handel, das europäische Recht, die Religion und so vieles andere — und sie müssen mehr als nur oberflächliches davon annehmen, wenn sie nicht verloren sein wollen. Um wie viel glücklicher waren auch hierin die Germanen, die sehr allmählich eine viel weniger verwickelte Kultur aufzunehmen hatten; und doch wie lange Zeit brauchten auch sie, bis sie diese Kultur vollkommen sich assimilirt hatten! Ist es zu viel gesagt, wenn man behauptet, dass dies erst im vorigen Jahrhundert durch das geistige Durchdringen des Alterthums ganz geschehen sei?
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Zitationshilfe: | Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerland_naturvoelker_1868/107>, abgerufen am 07.02.2025. |