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Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868.

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Den Cariben in Südamerika wird von den älteren spanischen Schriftstellern gleichfalls der Vorwurf unnatürlicher Lasterhaftigkeit gemacht, doch hat Waitz 3, 383 Recht, wenn er auch diesen Vorwurf für unrichtig hält, "denn auf ihn pflegte hauptsächlich der Anspruch gegründet zu werden, die Eingeborenen zu rechtmässigen Sklaven zu machen". Andere Schriftsteller läugnen auch, dass hier solche Laster vorgekommen seien; doch fanden sich Männer in Weiberkleidern auch hier (Oviedo bei Waitz 3, 383). Auch die Tupis in Brasilien lebten streng (3, 423); ebenso die Araukaner (3, 516). Hiermit stimmen auch alle Nachrichten bei Azara; nur dass er den Weibern der Mbayas, bei denen Polygamie erlaubt ist, mancherlei Ausschweifungen vorwirft (249-50).

Es ist nicht nöthig, dies bei den Amerikanern weiter zu verfolgen; für uns genügt das Ergebniss, dass zwar mancherlei Ausschweifungen namentlich in Nordamerika unter ihnen sich vorfanden, dass diese aber keineswegs allgemein und bedeutend genug waren, um aus ihnen die Verminderung der Kopfzahl dieser Völker zu erklären. Dass aber, seit der Bekanntschaft mit den Europäern diese Ausschweifungen sehr zugenommen haben, ist eine traurige Wahrheit.

Dem Trunk war man in Mittel- und Nordamerika nicht ergeben und ist es verhältnissmässig auch jetzt noch nicht. Allerdings kannte man in Mexiko mehrere geistige Getränke (Waitz 4, 98), von denen das eine, Pulque, Agavesaft, den man durch Ausschneiden des Herzens der Pflanze, wenn sie den mächtigen Schaft treiben will, gewinnt und gähren lässt, auch von Europäern (Humboldt a 3, 99) mit wahrer Leidenschaft getrunken wird; allein die Mexikaner waren mässig, wie schon aus ihren Gesetzen hervorgeht. Der Trunk wurde darin so streng geahndet, dass irgend welche Verbreitung desselben ganz unmöglich war (Waitz 4, 83-84). Auch in Californien war er selten (eb. 240. 242). Die Eingeborenen von Nikaragua, von welchen auch verschiedene geschlechtliche Ausschweifungen berichtet werden, sollen nach Oviedo auch dem Trunke ergeben gewesen sein; allein allzu sicher sind diese Nachrichten nicht (Waitz 4, 279). Auch die Peruaner, obwohl sie verschiedene geistige Getränke hatten, waren dem Trunke nicht ergeben (4, 429), so wie sie auch dem Genuss der Coka, die im ganzen Land gebaut wurde, nicht übermässig fröhnten; dem Volk war sie ganz verboten (422). Obwohl nun die Eroberung des Landes die Sitten vielfach verschlechterte, so sind doch auch jetzt noch weder die Peruaner (500) noch die Mexikaner (196) und die ihnen verwandten Völker dem Trunk ergeben (227) -- wenn es auch Feste gab, z. B. in Yukatan, bei welchem sich die Weiber berauscht haben sollen (4, 307), oder bei denen, wie in Nikaragua, allgemeine Zügellosigkeit herrschte (279). Denn bei allen solchen Festen waren gewiss, wie bei ähnlichen semitischen und indogermanischen, religiöse Motive wirksam.

Den Cariben in Südamerika wird von den älteren spanischen Schriftstellern gleichfalls der Vorwurf unnatürlicher Lasterhaftigkeit gemacht, doch hat Waitz 3, 383 Recht, wenn er auch diesen Vorwurf für unrichtig hält, »denn auf ihn pflegte hauptsächlich der Anspruch gegründet zu werden, die Eingeborenen zu rechtmässigen Sklaven zu machen«. Andere Schriftsteller läugnen auch, dass hier solche Laster vorgekommen seien; doch fanden sich Männer in Weiberkleidern auch hier (Oviedo bei Waitz 3, 383). Auch die Tupis in Brasilien lebten streng (3, 423); ebenso die Araukaner (3, 516). Hiermit stimmen auch alle Nachrichten bei Azara; nur dass er den Weibern der Mbayas, bei denen Polygamie erlaubt ist, mancherlei Ausschweifungen vorwirft (249-50).

Es ist nicht nöthig, dies bei den Amerikanern weiter zu verfolgen; für uns genügt das Ergebniss, dass zwar mancherlei Ausschweifungen namentlich in Nordamerika unter ihnen sich vorfanden, dass diese aber keineswegs allgemein und bedeutend genug waren, um aus ihnen die Verminderung der Kopfzahl dieser Völker zu erklären. Dass aber, seit der Bekanntschaft mit den Europäern diese Ausschweifungen sehr zugenommen haben, ist eine traurige Wahrheit.

Dem Trunk war man in Mittel- und Nordamerika nicht ergeben und ist es verhältnissmässig auch jetzt noch nicht. Allerdings kannte man in Mexiko mehrere geistige Getränke (Waitz 4, 98), von denen das eine, Pulque, Agavesaft, den man durch Ausschneiden des Herzens der Pflanze, wenn sie den mächtigen Schaft treiben will, gewinnt und gähren lässt, auch von Europäern (Humboldt a 3, 99) mit wahrer Leidenschaft getrunken wird; allein die Mexikaner waren mässig, wie schon aus ihren Gesetzen hervorgeht. Der Trunk wurde darin so streng geahndet, dass irgend welche Verbreitung desselben ganz unmöglich war (Waitz 4, 83-84). Auch in Californien war er selten (eb. 240. 242). Die Eingeborenen von Nikaragua, von welchen auch verschiedene geschlechtliche Ausschweifungen berichtet werden, sollen nach Oviedo auch dem Trunke ergeben gewesen sein; allein allzu sicher sind diese Nachrichten nicht (Waitz 4, 279). Auch die Peruaner, obwohl sie verschiedene geistige Getränke hatten, waren dem Trunke nicht ergeben (4, 429), so wie sie auch dem Genuss der Coka, die im ganzen Land gebaut wurde, nicht übermässig fröhnten; dem Volk war sie ganz verboten (422). Obwohl nun die Eroberung des Landes die Sitten vielfach verschlechterte, so sind doch auch jetzt noch weder die Peruaner (500) noch die Mexikaner (196) und die ihnen verwandten Völker dem Trunk ergeben (227) — wenn es auch Feste gab, z. B. in Yukatan, bei welchem sich die Weiber berauscht haben sollen (4, 307), oder bei denen, wie in Nikaragua, allgemeine Zügellosigkeit herrschte (279). Denn bei allen solchen Festen waren gewiss, wie bei ähnlichen semitischen und indogermanischen, religiöse Motive wirksam.

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 unnatürlicher Lasterhaftigkeit gemacht, doch hat Waitz 3, 383
 Recht, wenn er auch diesen Vorwurf für unrichtig hält,
 »denn auf ihn pflegte hauptsächlich der Anspruch
 gegründet zu werden, die Eingeborenen zu rechtmässigen
 Sklaven zu machen«. Andere Schriftsteller läugnen auch,
 dass hier solche Laster vorgekommen seien; doch fanden sich
 Männer in Weiberkleidern auch hier (Oviedo bei Waitz 3, 383).
 Auch die Tupis in Brasilien lebten streng (3, 423); ebenso die
 Araukaner (3, 516). Hiermit stimmen auch alle Nachrichten bei
 Azara; nur dass er den Weibern der Mbayas, bei denen Polygamie
 erlaubt ist, mancherlei Ausschweifungen vorwirft (249-50).</p>
        <p>Es ist nicht nöthig, dies bei den Amerikanern weiter zu
 verfolgen; für uns genügt das Ergebniss, dass zwar
 mancherlei Ausschweifungen namentlich in Nordamerika unter ihnen
 sich vorfanden, dass diese aber keineswegs allgemein und bedeutend
 genug waren, um aus ihnen die Verminderung der Kopfzahl dieser
 Völker zu erklären. Dass aber, seit der Bekanntschaft mit
 den Europäern diese Ausschweifungen sehr zugenommen haben, ist
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 Allerdings kannte man in Mexiko mehrere geistige Getränke
 (Waitz 4, 98), von denen das eine, Pulque, Agavesaft, den man durch
 Ausschneiden des Herzens der Pflanze, wenn sie den mächtigen
 Schaft treiben will, gewinnt und gähren lässt, auch von
 Europäern (Humboldt a 3, 99) mit wahrer Leidenschaft getrunken
 wird; allein die Mexikaner waren mässig, wie schon aus ihren
 Gesetzen hervorgeht. Der Trunk wurde darin so streng geahndet, dass
 irgend welche Verbreitung desselben ganz unmöglich war (Waitz
 4, 83-84). Auch in Californien war er selten (eb. 240. 242). Die
 Eingeborenen von Nikaragua, von welchen auch verschiedene
 geschlechtliche Ausschweifungen berichtet werden, sollen nach
 Oviedo auch dem Trunke ergeben gewesen sein; allein allzu sicher
 sind diese Nachrichten nicht (Waitz 4, 279). Auch die Peruaner,
 obwohl sie verschiedene geistige Getränke hatten, waren dem
 Trunke nicht ergeben (4, 429), so wie sie auch dem Genuss der Coka,
 die im ganzen Land gebaut wurde, nicht übermässig
 fröhnten; dem Volk war sie ganz verboten (422). Obwohl nun die
 Eroberung des Landes die Sitten vielfach verschlechterte, so sind
 doch auch jetzt noch weder die Peruaner (500) noch die Mexikaner
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[0053] Den Cariben in Südamerika wird von den älteren spanischen Schriftstellern gleichfalls der Vorwurf unnatürlicher Lasterhaftigkeit gemacht, doch hat Waitz 3, 383 Recht, wenn er auch diesen Vorwurf für unrichtig hält, »denn auf ihn pflegte hauptsächlich der Anspruch gegründet zu werden, die Eingeborenen zu rechtmässigen Sklaven zu machen«. Andere Schriftsteller läugnen auch, dass hier solche Laster vorgekommen seien; doch fanden sich Männer in Weiberkleidern auch hier (Oviedo bei Waitz 3, 383). Auch die Tupis in Brasilien lebten streng (3, 423); ebenso die Araukaner (3, 516). Hiermit stimmen auch alle Nachrichten bei Azara; nur dass er den Weibern der Mbayas, bei denen Polygamie erlaubt ist, mancherlei Ausschweifungen vorwirft (249-50). Es ist nicht nöthig, dies bei den Amerikanern weiter zu verfolgen; für uns genügt das Ergebniss, dass zwar mancherlei Ausschweifungen namentlich in Nordamerika unter ihnen sich vorfanden, dass diese aber keineswegs allgemein und bedeutend genug waren, um aus ihnen die Verminderung der Kopfzahl dieser Völker zu erklären. Dass aber, seit der Bekanntschaft mit den Europäern diese Ausschweifungen sehr zugenommen haben, ist eine traurige Wahrheit. Dem Trunk war man in Mittel- und Nordamerika nicht ergeben und ist es verhältnissmässig auch jetzt noch nicht. Allerdings kannte man in Mexiko mehrere geistige Getränke (Waitz 4, 98), von denen das eine, Pulque, Agavesaft, den man durch Ausschneiden des Herzens der Pflanze, wenn sie den mächtigen Schaft treiben will, gewinnt und gähren lässt, auch von Europäern (Humboldt a 3, 99) mit wahrer Leidenschaft getrunken wird; allein die Mexikaner waren mässig, wie schon aus ihren Gesetzen hervorgeht. Der Trunk wurde darin so streng geahndet, dass irgend welche Verbreitung desselben ganz unmöglich war (Waitz 4, 83-84). Auch in Californien war er selten (eb. 240. 242). Die Eingeborenen von Nikaragua, von welchen auch verschiedene geschlechtliche Ausschweifungen berichtet werden, sollen nach Oviedo auch dem Trunke ergeben gewesen sein; allein allzu sicher sind diese Nachrichten nicht (Waitz 4, 279). Auch die Peruaner, obwohl sie verschiedene geistige Getränke hatten, waren dem Trunke nicht ergeben (4, 429), so wie sie auch dem Genuss der Coka, die im ganzen Land gebaut wurde, nicht übermässig fröhnten; dem Volk war sie ganz verboten (422). Obwohl nun die Eroberung des Landes die Sitten vielfach verschlechterte, so sind doch auch jetzt noch weder die Peruaner (500) noch die Mexikaner (196) und die ihnen verwandten Völker dem Trunk ergeben (227) — wenn es auch Feste gab, z. B. in Yukatan, bei welchem sich die Weiber berauscht haben sollen (4, 307), oder bei denen, wie in Nikaragua, allgemeine Zügellosigkeit herrschte (279). Denn bei allen solchen Festen waren gewiss, wie bei ähnlichen semitischen und indogermanischen, religiöse Motive wirksam.

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Zitationshilfe: Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerland_naturvoelker_1868/53>, abgerufen am 29.04.2024.