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Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807.

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Geschlecht aber sammelt die Zauberschriften, und
erkennt geliebte Züge wieder; in innerer Brust werden
dann Geisterstimmen wach, und in leisem Geflüster
sprechen sie mit der Vergangenheit, die vernehmlich
antwortet in den Zügen, und aus der Erde hinauf in
die Erde hinab wechseln die Generationen bedeutend
stumme Worte, und das Fernste ist nun nicht mehr
zerflossen, und nebelnd und in den Schatten erdunkelt;
wie die Zeit unsterblich, so sind es die Zeiten auch
geworden. Wie wäre die Welt so arm, wenn jedes
Seyn am Kommenden rein gestorben wäre; wenn der
Engel des Lebens mit dem Tode nicht zugleich umwan-
delte, und das Köstlichste ewig jung erhielte! Es ist
eine herrliche Gabe, daß, während' das Leben unauf-
haltsam forteilt, und in wirbelndem Schwunge den
Staub immer neu gestaltet, ihm vergönnt wurde, immer
das Beste des Erstrebten mit hinüberzunehmen in den
neuen Zustand, und mit dem Erworbenen zu
wuchern in der Zukunft. Wie die Seelen wandern
von Form zu Form, von Gestalt zu Gestalt in fort-
laufender Entwicklung, wenn sie anderst diese Ent-
wicklung in eigner Selbstständigkeit in sich wecken und
erhalten, so wandert auf die gleiche Weise auch ihr
eigenster Besitz mit ihnen; jede neue Generation findet,
wenn sie aus der Chrysalide bricht, auch schon die

Geſchlecht aber ſammelt die Zauberſchriften, und
erkennt geliebte Züge wieder; in innerer Bruſt werden
dann Geiſterſtimmen wach, und in leiſem Geflüſter
ſprechen ſie mit der Vergangenheit, die vernehmlich
antwortet in den Zügen, und aus der Erde hinauf in
die Erde hinab wechſeln die Generationen bedeutend
ſtumme Worte, und das Fernſte iſt nun nicht mehr
zerfloſſen, und nebelnd und in den Schatten erdunkelt;
wie die Zeit unſterblich, ſo ſind es die Zeiten auch
geworden. Wie wäre die Welt ſo arm, wenn jedes
Seyn am Kommenden rein geſtorben wäre; wenn der
Engel des Lebens mit dem Tode nicht zugleich umwan-
delte, und das Köſtlichſte ewig jung erhielte! Es iſt
eine herrliche Gabe, daß, während’ das Leben unauf-
haltſam forteilt, und in wirbelndem Schwunge den
Staub immer neu geſtaltet, ihm vergönnt wurde, immer
das Beſte des Erſtrebten mit hinüberzunehmen in den
neuen Zuſtand, und mit dem Erworbenen zu
wuchern in der Zukunft. Wie die Seelen wandern
von Form zu Form, von Geſtalt zu Geſtalt in fort-
laufender Entwicklung, wenn ſie anderſt dieſe Ent-
wicklung in eigner Selbſtſtändigkeit in ſich wecken und
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[264/0282] Geſchlecht aber ſammelt die Zauberſchriften, und erkennt geliebte Züge wieder; in innerer Bruſt werden dann Geiſterſtimmen wach, und in leiſem Geflüſter ſprechen ſie mit der Vergangenheit, die vernehmlich antwortet in den Zügen, und aus der Erde hinauf in die Erde hinab wechſeln die Generationen bedeutend ſtumme Worte, und das Fernſte iſt nun nicht mehr zerfloſſen, und nebelnd und in den Schatten erdunkelt; wie die Zeit unſterblich, ſo ſind es die Zeiten auch geworden. Wie wäre die Welt ſo arm, wenn jedes Seyn am Kommenden rein geſtorben wäre; wenn der Engel des Lebens mit dem Tode nicht zugleich umwan- delte, und das Köſtlichſte ewig jung erhielte! Es iſt eine herrliche Gabe, daß, während’ das Leben unauf- haltſam forteilt, und in wirbelndem Schwunge den Staub immer neu geſtaltet, ihm vergönnt wurde, immer das Beſte des Erſtrebten mit hinüberzunehmen in den neuen Zuſtand, und mit dem Erworbenen zu wuchern in der Zukunft. Wie die Seelen wandern von Form zu Form, von Geſtalt zu Geſtalt in fort- laufender Entwicklung, wenn ſie anderſt dieſe Ent- wicklung in eigner Selbſtſtändigkeit in ſich wecken und erhalten, ſo wandert auf die gleiche Weiſe auch ihr eigenſter Beſitz mit ihnen; jede neue Generation findet, wenn ſie aus der Chryſalide bricht, auch ſchon die

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Zitationshilfe: Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/282>, abgerufen am 28.04.2024.