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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

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übernacht geschriebenes Gedicht, wodurch
er sich die Gunst des Fürsten erwirbt, ist
uns übrig geblieben.

Aus diesem und aus mehreren Poesien
die uns mitgetheilt worden blickt ein hei-
terer Geist hervor, begabt mit unendlicher
Umsicht und scharfem glücklichen Durch-
schauen, er beherrscht einen unübersehba-
ren Stoff. Er lebt in der Gegenwart, und
wie er vom Schüler sogleich zum Hofmann
übergeht, wird er ein freyer Encomiast und
findet dass kein besser Handwerk sey, als
mitlebende Menschen durch Lob zu ergö-
tzen. Fürsten, Veziere, edle und schöne
Frauen, Dichter und Musiker schmückt er
mit seinem Preis und weiss auf einen jeden
etwas Zierliches aus dem breiten Weltvor-
rathe anzuwenden.

Wir können daher nicht billig finden,
dass man ihm die Verhältnisse in denen er
gelebt und sein Talent genutzt, nach so
viel hundert Jahren, zum Verbrechen macht.
Was sollt' aus dem Dichter werden, wenn
es nicht hohe, mächtige, kluge, thätige,
schöne und geschickte Menschen gäbe, an
deren Vorzügen er sich auferbauen kann?

übernacht geschriebenes Gedicht, wodurch
er sich die Gunst des Fürsten erwirbt, ist
uns übrig geblieben.

Aus diesem und aus mehreren Poesien
die uns mitgetheilt worden blickt ein hei-
terer Geist hervor, begabt mit unendlicher
Umsicht und scharfem glücklichen Durch-
schauen, er beherrscht einen unübersehba-
ren Stoff. Er lebt in der Gegenwart, und
wie er vom Schüler sogleich zum Hofmann
übergeht, wird er ein freyer Encomiast und
findet daſs kein besser Handwerk sey, als
mitlebende Menschen durch Lob zu ergö-
tzen. Fürsten, Veziere, edle und schöne
Frauen, Dichter und Musiker schmückt er
mit seinem Preis und weiſs auf einen jeden
etwas Zierliches aus dem breiten Weltvor-
rathe anzuwenden.

Wir können daher nicht billig finden,
daſs man ihm die Verhältnisse in denen er
gelebt und sein Talent genutzt, nach so
viel hundert Jahren, zum Verbrechen macht.
Was sollt’ aus dem Dichter werden, wenn
es nicht hohe, mächtige, kluge, thätige,
schöne und geschickte Menschen gäbe, an
deren Vorzügen er sich auferbauen kann?

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[306/0316] übernacht geschriebenes Gedicht, wodurch er sich die Gunst des Fürsten erwirbt, ist uns übrig geblieben. Aus diesem und aus mehreren Poesien die uns mitgetheilt worden blickt ein hei- terer Geist hervor, begabt mit unendlicher Umsicht und scharfem glücklichen Durch- schauen, er beherrscht einen unübersehba- ren Stoff. Er lebt in der Gegenwart, und wie er vom Schüler sogleich zum Hofmann übergeht, wird er ein freyer Encomiast und findet daſs kein besser Handwerk sey, als mitlebende Menschen durch Lob zu ergö- tzen. Fürsten, Veziere, edle und schöne Frauen, Dichter und Musiker schmückt er mit seinem Preis und weiſs auf einen jeden etwas Zierliches aus dem breiten Weltvor- rathe anzuwenden. Wir können daher nicht billig finden, daſs man ihm die Verhältnisse in denen er gelebt und sein Talent genutzt, nach so viel hundert Jahren, zum Verbrechen macht. Was sollt’ aus dem Dichter werden, wenn es nicht hohe, mächtige, kluge, thätige, schöne und geschickte Menschen gäbe, an deren Vorzügen er sich auferbauen kann?

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/316>, abgerufen am 28.04.2024.