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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

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und Meer und das vielgestirnte Firmament,
so findet man dass dem Orientalen bey al-
lem alles einfällt, so dass er, übers Kreuz
das Fernste zu verknüpfen gewohnt, durch
die geringste Buchstaben- und Silbenbiegung
Widersprechendes aus einander herzuleiten
kein Bedenken trägt. Hier sieht man dass
die Sprache schon an und für sich produc-
tiv ist und zwar, in so fern sie dem Ge-
danken entgegen kommt, rednerisch, in so
fern sie der Einbildungskraft zusagt, poe-
tisch.

Wer nun also, von den ersten noth-
wendigen Ur-Tropen ausgehend, die freye-
ren und kühneren bezeichnete, bis er end-
lich zu den gewagtesten, willkührlichsten,
ja zuletzt ungeschickten, conventionellen
und abgeschmackten, gelangte, der hätte
sich von den Hauptmomenten der orienta-
lischen Dichtkunst eine freye Uebersicht
verschafft. Er würde aber dabey sich leicht
überzeugen, dass von dem was wir Ge-
schmack nennen, von der Sonderung näm-
lich des Schicklichen vom Unschicklichen,
in jener Literatur gar nicht die Rede seyn

Ebene, Bäume, Kräuter, Blumen, Fluſs
und Meer und das vielgestirnte Firmament,
so findet man daſs dem Orientalen bey al-
lem alles einfällt, so daſs er, übers Kreuz
das Fernste zu verknüpfen gewohnt, durch
die geringste Buchstaben- und Silbenbiegung
Widersprechendes aus einander herzuleiten
kein Bedenken trägt. Hier sieht man daſs
die Sprache schon an und für sich produc-
tiv ist und zwar, in so fern sie dem Ge-
danken entgegen kommt, rednerisch, in so
fern sie der Einbildungskraft zusagt, poe-
tisch.

Wer nun also, von den ersten noth-
wendigen Ur-Tropen ausgehend, die freye-
ren und kühneren bezeichnete, bis er end-
lich zu den gewagtesten, willkührlichsten,
ja zuletzt ungeschickten, conventionellen
und abgeschmackten, gelangte, der hätte
sich von den Hauptmomenten der orienta-
lischen Dichtkunst eine freye Uebersicht
verschafft. Er würde aber dabey sich leicht
überzeugen, daſs von dem was wir Ge-
schmack nennen, von der Sonderung näm-
lich des Schicklichen vom Unschicklichen,
in jener Literatur gar nicht die Rede seyn

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[362/0372] Ebene, Bäume, Kräuter, Blumen, Fluſs und Meer und das vielgestirnte Firmament, so findet man daſs dem Orientalen bey al- lem alles einfällt, so daſs er, übers Kreuz das Fernste zu verknüpfen gewohnt, durch die geringste Buchstaben- und Silbenbiegung Widersprechendes aus einander herzuleiten kein Bedenken trägt. Hier sieht man daſs die Sprache schon an und für sich produc- tiv ist und zwar, in so fern sie dem Ge- danken entgegen kommt, rednerisch, in so fern sie der Einbildungskraft zusagt, poe- tisch. Wer nun also, von den ersten noth- wendigen Ur-Tropen ausgehend, die freye- ren und kühneren bezeichnete, bis er end- lich zu den gewagtesten, willkührlichsten, ja zuletzt ungeschickten, conventionellen und abgeschmackten, gelangte, der hätte sich von den Hauptmomenten der orienta- lischen Dichtkunst eine freye Uebersicht verschafft. Er würde aber dabey sich leicht überzeugen, daſs von dem was wir Ge- schmack nennen, von der Sonderung näm- lich des Schicklichen vom Unschicklichen, in jener Literatur gar nicht die Rede seyn

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/372>, abgerufen am 28.04.2024.