Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

niemals lächeln gesehen. Ihm begegnete das
Unglück, daß seine einzige Tochter durch ei¬
nen Hausfreund entführt wurde. Er ver¬
folgte seinen Schwiegersohn mit dem heftig¬
sten Proceß, und weil die Gerichte, in ihrer
Förmlichkeit, seiner Rachsucht weder schnell
noch stark genug willfahren wollten, überwarf
er sich mit diesen, und es entstanden Händel
aus Händeln, Processe aus Processen. Er
zog sich ganz in sein Haus und einen daran¬
stoßenden Garten zurück, lebte in einer weit¬
läuftigen aber traurigen Unterstube, in die
seit vielen Jahren kein Pinsel eines Tün¬
chers, vielleicht kaum der Kehrbesen einer
Magd gekommen war. Mich konnte er gar
gern leiden, und hatte mir seinen jüngern
Sohn besonders empfohlen. Seine ältesten
Freunde, die sich nach ihm zu richten wu߬
ten, seine Geschäftsleute, seine Sachwalter
sah er manchmal bey Tische, und unterließ
dann niemals auch mich einzuladen. Man
aß sehr gut bey ihm und trank noch besser.

niemals laͤcheln geſehen. Ihm begegnete das
Ungluͤck, daß ſeine einzige Tochter durch ei¬
nen Hausfreund entfuͤhrt wurde. Er ver¬
folgte ſeinen Schwiegerſohn mit dem heftig¬
ſten Proceß, und weil die Gerichte, in ihrer
Foͤrmlichkeit, ſeiner Rachſucht weder ſchnell
noch ſtark genug willfahren wollten, uͤberwarf
er ſich mit dieſen, und es entſtanden Haͤndel
aus Haͤndeln, Proceſſe aus Proceſſen. Er
zog ſich ganz in ſein Haus und einen daran¬
ſtoßenden Garten zuruͤck, lebte in einer weit¬
laͤuftigen aber traurigen Unterſtube, in die
ſeit vielen Jahren kein Pinſel eines Tuͤn¬
chers, vielleicht kaum der Kehrbeſen einer
Magd gekommen war. Mich konnte er gar
gern leiden, und hatte mir ſeinen juͤngern
Sohn beſonders empfohlen. Seine aͤlteſten
Freunde, die ſich nach ihm zu richten wu߬
ten, ſeine Geſchaͤftsleute, ſeine Sachwalter
ſah er manchmal bey Tiſche, und unterließ
dann niemals auch mich einzuladen. Man
aß ſehr gut bey ihm und trank noch beſſer.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0389" n="373"/>
niemals la&#x0364;cheln ge&#x017F;ehen. Ihm begegnete das<lb/>
Unglu&#x0364;ck, daß &#x017F;eine einzige Tochter durch ei¬<lb/>
nen Hausfreund entfu&#x0364;hrt wurde. Er ver¬<lb/>
folgte &#x017F;einen Schwieger&#x017F;ohn mit dem heftig¬<lb/>
&#x017F;ten Proceß, und weil die Gerichte, in ihrer<lb/>
Fo&#x0364;rmlichkeit, &#x017F;einer Rach&#x017F;ucht weder &#x017F;chnell<lb/>
noch &#x017F;tark genug willfahren wollten, u&#x0364;berwarf<lb/>
er &#x017F;ich mit die&#x017F;en, und es ent&#x017F;tanden Ha&#x0364;ndel<lb/>
aus Ha&#x0364;ndeln, Proce&#x017F;&#x017F;e aus Proce&#x017F;&#x017F;en. Er<lb/>
zog &#x017F;ich ganz in &#x017F;ein Haus und einen daran¬<lb/>
&#x017F;toßenden Garten zuru&#x0364;ck, lebte in einer weit¬<lb/>
la&#x0364;uftigen aber traurigen Unter&#x017F;tube, in die<lb/>
&#x017F;eit vielen Jahren kein Pin&#x017F;el eines Tu&#x0364;<lb/>
chers, vielleicht kaum der Kehrbe&#x017F;en einer<lb/>
Magd gekommen war. Mich konnte er gar<lb/>
gern leiden, und hatte mir &#x017F;einen ju&#x0364;ngern<lb/>
Sohn be&#x017F;onders empfohlen. Seine a&#x0364;lte&#x017F;ten<lb/>
Freunde, die &#x017F;ich nach ihm zu richten wu߬<lb/>
ten, &#x017F;eine Ge&#x017F;cha&#x0364;ftsleute, &#x017F;eine Sachwalter<lb/>
&#x017F;ah er manchmal bey Ti&#x017F;che, und unterließ<lb/>
dann niemals auch mich einzuladen. Man<lb/>&#x017F;ehr gut bey ihm und trank noch be&#x017F;&#x017F;er.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[373/0389] niemals laͤcheln geſehen. Ihm begegnete das Ungluͤck, daß ſeine einzige Tochter durch ei¬ nen Hausfreund entfuͤhrt wurde. Er ver¬ folgte ſeinen Schwiegerſohn mit dem heftig¬ ſten Proceß, und weil die Gerichte, in ihrer Foͤrmlichkeit, ſeiner Rachſucht weder ſchnell noch ſtark genug willfahren wollten, uͤberwarf er ſich mit dieſen, und es entſtanden Haͤndel aus Haͤndeln, Proceſſe aus Proceſſen. Er zog ſich ganz in ſein Haus und einen daran¬ ſtoßenden Garten zuruͤck, lebte in einer weit¬ laͤuftigen aber traurigen Unterſtube, in die ſeit vielen Jahren kein Pinſel eines Tuͤn¬ chers, vielleicht kaum der Kehrbeſen einer Magd gekommen war. Mich konnte er gar gern leiden, und hatte mir ſeinen juͤngern Sohn beſonders empfohlen. Seine aͤlteſten Freunde, die ſich nach ihm zu richten wu߬ ten, ſeine Geſchaͤftsleute, ſeine Sachwalter ſah er manchmal bey Tiſche, und unterließ dann niemals auch mich einzuladen. Man aß ſehr gut bey ihm und trank noch beſſer.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/389
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/389>, abgerufen am 10.06.2024.