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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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ten finden; hier sey weder Griechenland noch
Italien, weder eine Urwelt noch eine gebil¬
dete, alles vielmehr sey Nachahmung des
schon Dagewesenen und eine manierirte Dar¬
stellung, wie sie sich nur von einem Ueber¬
cultivirten erwarten lasse. Und wenn ich denn
zuletzt behaupten wollte: was ein vorzügliches
Individuum hervorbringe, sey doch auch Na¬
tur, und unter allen Völkern, frühern und spä¬
tern, sey doch immer nur der Dichter Dichter
gewesen; so wurde mir dieß nun gar nicht gut
gehalten, und ich mußte manches deswegen
ausstehen, ja mein Ovid war mir beynah
dadurch verleidet: denn es ist keine Neigung,
keine Gewohnheit so stark, daß sie gegen die
Misreden vorzüglicher Menschen, in die man
Vertrauen setzt, auf die Länge sich erhalten
könnte. Immer bleibt etwas hängen, und
wenn man nicht unbedingt lieben darf, sieht
es mit der Liebe schon mislich aus.

ten finden; hier ſey weder Griechenland noch
Italien, weder eine Urwelt noch eine gebil¬
dete, alles vielmehr ſey Nachahmung des
ſchon Dageweſenen und eine manierirte Dar¬
ſtellung, wie ſie ſich nur von einem Ueber¬
cultivirten erwarten laſſe. Und wenn ich denn
zuletzt behaupten wollte: was ein vorzuͤgliches
Individuum hervorbringe, ſey doch auch Na¬
tur, und unter allen Voͤlkern, fruͤhern und ſpaͤ¬
tern, ſey doch immer nur der Dichter Dichter
geweſen; ſo wurde mir dieß nun gar nicht gut
gehalten, und ich mußte manches deswegen
ausſtehen, ja mein Ovid war mir beynah
dadurch verleidet: denn es iſt keine Neigung,
keine Gewohnheit ſo ſtark, daß ſie gegen die
Misreden vorzuͤglicher Menſchen, in die man
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[486/0494] ten finden; hier ſey weder Griechenland noch Italien, weder eine Urwelt noch eine gebil¬ dete, alles vielmehr ſey Nachahmung des ſchon Dageweſenen und eine manierirte Dar¬ ſtellung, wie ſie ſich nur von einem Ueber¬ cultivirten erwarten laſſe. Und wenn ich denn zuletzt behaupten wollte: was ein vorzuͤgliches Individuum hervorbringe, ſey doch auch Na¬ tur, und unter allen Voͤlkern, fruͤhern und ſpaͤ¬ tern, ſey doch immer nur der Dichter Dichter geweſen; ſo wurde mir dieß nun gar nicht gut gehalten, und ich mußte manches deswegen ausſtehen, ja mein Ovid war mir beynah dadurch verleidet: denn es iſt keine Neigung, keine Gewohnheit ſo ſtark, daß ſie gegen die Misreden vorzuͤglicher Menſchen, in die man Vertrauen ſetzt, auf die Laͤnge ſich erhalten koͤnnte. Immer bleibt etwas haͤngen, und wenn man nicht unbedingt lieben darf, ſieht es mit der Liebe ſchon mislich aus.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 486. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/494>, abgerufen am 30.04.2024.