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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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den Vater gewendet, dem sie nicht verzieh,
daß er ihr diese drey Jahre lang so manche
unschuldige Freude verhindert oder vergällt,
und von dessen guten und trefflichen Eigen¬
schaften sie auch ganz und gar keine anerken¬
nen wollte. Sie that alles was er befahl
oder anordnete, aber auf die unlieblichste Weise
von der Welt. Sie that es in hergebrachter
Ordnung, aber auch nichts drüber und nichts
drunter. Aus Liebe oder Gefälligkeit bequemte
sie sich zu nichts, so daß dieß eins der ersten
Dinge war, über die sich die Mutter in ei¬
nem geheimen Gespräch mit mir beklagte. Da
nun aber meine Schwester so liebebedürftig
war, als irgend ein menschliches Wesen; so
wendete sie nun ihre Neigung ganz auf mich.
Ihre Sorge für meine Pflege und Unterhal¬
tung verschlang alle ihre Zeit; ihre Gespielin¬
nen, die von ihr beherrscht wurden, ohne daß
sie daran dachte, mußten gleichfalls allerley
aussinnen, um mir gefällig und trostreich zu
seyn. Sie war erfinderisch mich zu erheitern,

den Vater gewendet, dem ſie nicht verzieh,
daß er ihr dieſe drey Jahre lang ſo manche
unſchuldige Freude verhindert oder vergaͤllt,
und von deſſen guten und trefflichen Eigen¬
ſchaften ſie auch ganz und gar keine anerken¬
nen wollte. Sie that alles was er befahl
oder anordnete, aber auf die unlieblichſte Weiſe
von der Welt. Sie that es in hergebrachter
Ordnung, aber auch nichts druͤber und nichts
drunter. Aus Liebe oder Gefaͤlligkeit bequemte
ſie ſich zu nichts, ſo daß dieß eins der erſten
Dinge war, uͤber die ſich die Mutter in ei¬
nem geheimen Geſpraͤch mit mir beklagte. Da
nun aber meine Schweſter ſo liebebeduͤrftig
war, als irgend ein menſchliches Weſen; ſo
wendete ſie nun ihre Neigung ganz auf mich.
Ihre Sorge fuͤr meine Pflege und Unterhal¬
tung verſchlang alle ihre Zeit; ihre Geſpielin¬
nen, die von ihr beherrſcht wurden, ohne daß
ſie daran dachte, mußten gleichfalls allerley
ausſinnen, um mir gefaͤllig und troſtreich zu
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[300/0308] den Vater gewendet, dem ſie nicht verzieh, daß er ihr dieſe drey Jahre lang ſo manche unſchuldige Freude verhindert oder vergaͤllt, und von deſſen guten und trefflichen Eigen¬ ſchaften ſie auch ganz und gar keine anerken¬ nen wollte. Sie that alles was er befahl oder anordnete, aber auf die unlieblichſte Weiſe von der Welt. Sie that es in hergebrachter Ordnung, aber auch nichts druͤber und nichts drunter. Aus Liebe oder Gefaͤlligkeit bequemte ſie ſich zu nichts, ſo daß dieß eins der erſten Dinge war, uͤber die ſich die Mutter in ei¬ nem geheimen Geſpraͤch mit mir beklagte. Da nun aber meine Schweſter ſo liebebeduͤrftig war, als irgend ein menſchliches Weſen; ſo wendete ſie nun ihre Neigung ganz auf mich. Ihre Sorge fuͤr meine Pflege und Unterhal¬ tung verſchlang alle ihre Zeit; ihre Geſpielin¬ nen, die von ihr beherrſcht wurden, ohne daß ſie daran dachte, mußten gleichfalls allerley ausſinnen, um mir gefaͤllig und troſtreich zu ſeyn. Sie war erfinderiſch mich zu erheitern,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/308>, abgerufen am 28.04.2024.