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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

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schen, die sich, abgesondert von der Kirche,
reiner, herzlicher und geistreicher zu erbauen
glauben, beygewohnt hat, wird sich auch ei¬
nen Begriff von der gegenwärtigen Scene
machen können; er wird sich erinnern, wie
der Liturg seinen Worten den Vers eines
Gesanges anzupassen weiß, der die Seele da¬
hin erhebt, wohin der Redner wünscht, daß
sie ihren Flug nehmen möge, wie bald dar¬
auf ein anderer aus der Gemeinde, in einer
andern Melodie, den Vers eines andern Lie¬
des hinzufügt, und an diesen wieder ein drit¬
ter einen dritten anknüpft, wodurch die ver¬
wandten Ideen der Lieder, aus denen sie
entlehnt sind, zwar erregt werden, jede
Stelle aber durch die neue Verbindung neu
und individuell wird, als wenn sie in dem
Augenblicke erfunden worden wäre; wodurch
denn aus einem bekannten Kreise von Ideen,

Wer einer Verſammlung frommer Men¬
ſchen, die ſich, abgeſondert von der Kirche,
reiner, herzlicher und geiſtreicher zu erbauen
glauben, beygewohnt hat, wird ſich auch ei¬
nen Begriff von der gegenwärtigen Scene
machen können; er wird ſich erinnern, wie
der Liturg ſeinen Worten den Vers eines
Geſanges anzupaſſen weiß, der die Seele da¬
hin erhebt, wohin der Redner wünſcht, daß
ſie ihren Flug nehmen möge, wie bald dar¬
auf ein anderer aus der Gemeinde, in einer
andern Melodie, den Vers eines andern Lie¬
des hinzufügt, und an dieſen wieder ein drit¬
ter einen dritten anknüpft, wodurch die ver¬
wandten Ideen der Lieder, aus denen ſie
entlehnt ſind, zwar erregt werden, jede
Stelle aber durch die neue Verbindung neu
und individuell wird, als wenn ſie in dem
Augenblicke erfunden worden wäre; wodurch
denn aus einem bekannten Kreiſe von Ideen,

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[350/0358] Wer einer Verſammlung frommer Men¬ ſchen, die ſich, abgeſondert von der Kirche, reiner, herzlicher und geiſtreicher zu erbauen glauben, beygewohnt hat, wird ſich auch ei¬ nen Begriff von der gegenwärtigen Scene machen können; er wird ſich erinnern, wie der Liturg ſeinen Worten den Vers eines Geſanges anzupaſſen weiß, der die Seele da¬ hin erhebt, wohin der Redner wünſcht, daß ſie ihren Flug nehmen möge, wie bald dar¬ auf ein anderer aus der Gemeinde, in einer andern Melodie, den Vers eines andern Lie¬ des hinzufügt, und an dieſen wieder ein drit¬ ter einen dritten anknüpft, wodurch die ver¬ wandten Ideen der Lieder, aus denen ſie entlehnt ſind, zwar erregt werden, jede Stelle aber durch die neue Verbindung neu und individuell wird, als wenn ſie in dem Augenblicke erfunden worden wäre; wodurch denn aus einem bekannten Kreiſe von Ideen,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/358>, abgerufen am 27.04.2024.