Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

Sollten nicht, sagte er manchmal im Stil¬
len zu sich selbst, uns in der Jugend wie im
Schlafe, die Bilder zukünftiger Schicksale
umschweben, und unserm unbefangenen Auge
ahndungsvoll sichtbar werden? sollten die
Keime dessen, was uns begegnen wird, nicht
schon von der Hand des Schicksals ausge¬
streut, sollte nicht ein Vorgenuß der Früchte,
die wir einst zu brechen hoffen, möglich
seyn?

Sein Krankenlager gab ihm Zeit jene
Scene tausendmal zu wiederholen. Tausend¬
mal rief er den Klang jener süßen Stimme
zurück, und wie beneidete er Philinen, die
jene hülfreiche Hand geküßt hatte. Oft kam
ihm die Geschichte wie ein Traum vor, und
er würde sie für ein Mährchen gehalten ha¬
ben, wenn nicht das Kleid zurück geblieben
wäre, das ihm die Gewisheit der Erscheinung
versicherte.

Sollten nicht, ſagte er manchmal im Stil¬
len zu ſich ſelbſt, uns in der Jugend wie im
Schlafe, die Bilder zukünftiger Schickſale
umſchweben, und unſerm unbefangenen Auge
ahndungsvoll ſichtbar werden? ſollten die
Keime deſſen, was uns begegnen wird, nicht
ſchon von der Hand des Schickſals ausge¬
ſtreut, ſollte nicht ein Vorgenuß der Früchte,
die wir einſt zu brechen hoffen, möglich
ſeyn?

Sein Krankenlager gab ihm Zeit jene
Scene tauſendmal zu wiederholen. Tauſend¬
mal rief er den Klang jener ſüßen Stimme
zurück, und wie beneidete er Philinen, die
jene hülfreiche Hand geküßt hatte. Oft kam
ihm die Geſchichte wie ein Traum vor, und
er würde ſie für ein Mährchen gehalten ha¬
ben, wenn nicht das Kleid zurück geblieben
wäre, das ihm die Gewisheit der Erſcheinung
verſicherte.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0259" n="251"/>
            <p>Sollten nicht, &#x017F;agte er manchmal im Stil¬<lb/>
len zu &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, uns in der Jugend wie im<lb/>
Schlafe, die Bilder zukünftiger Schick&#x017F;ale<lb/>
um&#x017F;chweben, und un&#x017F;erm unbefangenen Auge<lb/>
ahndungsvoll &#x017F;ichtbar werden? &#x017F;ollten die<lb/>
Keime de&#x017F;&#x017F;en, was uns begegnen wird, nicht<lb/>
&#x017F;chon von der Hand des Schick&#x017F;als ausge¬<lb/>
&#x017F;treut, &#x017F;ollte nicht ein Vorgenuß der Früchte,<lb/>
die wir ein&#x017F;t zu brechen hoffen, möglich<lb/>
&#x017F;eyn?</p><lb/>
            <p>Sein Krankenlager gab ihm Zeit jene<lb/>
Scene tau&#x017F;endmal zu wiederholen. Tau&#x017F;end¬<lb/>
mal rief er den Klang jener &#x017F;üßen Stimme<lb/>
zurück, und wie beneidete er Philinen, die<lb/>
jene hülfreiche Hand geküßt hatte. Oft kam<lb/>
ihm die Ge&#x017F;chichte wie ein Traum vor, und<lb/>
er würde &#x017F;ie für ein Mährchen gehalten ha¬<lb/>
ben, wenn nicht das Kleid zurück geblieben<lb/>
wäre, das ihm die Gewisheit der Er&#x017F;cheinung<lb/>
ver&#x017F;icherte.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[251/0259] Sollten nicht, ſagte er manchmal im Stil¬ len zu ſich ſelbſt, uns in der Jugend wie im Schlafe, die Bilder zukünftiger Schickſale umſchweben, und unſerm unbefangenen Auge ahndungsvoll ſichtbar werden? ſollten die Keime deſſen, was uns begegnen wird, nicht ſchon von der Hand des Schickſals ausge¬ ſtreut, ſollte nicht ein Vorgenuß der Früchte, die wir einſt zu brechen hoffen, möglich ſeyn? Sein Krankenlager gab ihm Zeit jene Scene tauſendmal zu wiederholen. Tauſend¬ mal rief er den Klang jener ſüßen Stimme zurück, und wie beneidete er Philinen, die jene hülfreiche Hand geküßt hatte. Oft kam ihm die Geſchichte wie ein Traum vor, und er würde ſie für ein Mährchen gehalten ha¬ ben, wenn nicht das Kleid zurück geblieben wäre, das ihm die Gewisheit der Erſcheinung verſicherte.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/259
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/259>, abgerufen am 29.04.2024.