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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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Aber bey ihrer Neigung war ihnen das Mit¬
telmäßige nicht unerträglich, und der herrli¬
che Genuß, mit dem sie das Gute vor und
nach kosteten, war über allen Ausdruck. Das
Mechanische machte ihnen Freude, das Gei¬
stige entzückte sie, und ihre Neigung war so
groß, daß auch eine zerstückelte Probe sie in
eine Art von Illusion versetzte. Die Män¬
gel schienen ihnen jederzeit in die Ferne zu
treten, das Gute berührte sie wie ein naher
Gegenstand. Kurz sie waren Liebhaber, wie
sie sich der Künstler in seinem Fache wünscht.
Ihre liebste Wanderung war von den Cou¬
lissen ins Parterr, vom Parterr in die Cou¬
lissen, ihr angenehmster Aufenthalt in der
Garderobe, ihre emsigste Beschäftigung an
der Stellung, Kleidung, Recitation und De¬
clamation der Schauspieler etwas zuzustutzen,
ihr lebhaftestes Gespräch über den Effekt,
den man hervorgebracht hatte, und ihre be¬

Aber bey ihrer Neigung war ihnen das Mit¬
telmäßige nicht unerträglich, und der herrli¬
che Genuß, mit dem ſie das Gute vor und
nach koſteten, war über allen Ausdruck. Das
Mechaniſche machte ihnen Freude, das Gei¬
ſtige entzückte ſie, und ihre Neigung war ſo
groß, daß auch eine zerſtückelte Probe ſie in
eine Art von Illuſion verſetzte. Die Män¬
gel ſchienen ihnen jederzeit in die Ferne zu
treten, das Gute berührte ſie wie ein naher
Gegenſtand. Kurz ſie waren Liebhaber, wie
ſie ſich der Künſtler in ſeinem Fache wünſcht.
Ihre liebſte Wanderung war von den Cou¬
liſſen ins Parterr, vom Parterr in die Cou¬
liſſen, ihr angenehmſter Aufenthalt in der
Garderobe, ihre emſigſte Beſchäftigung an
der Stellung, Kleidung, Recitation und De¬
clamation der Schauſpieler etwas zuzuſtutzen,
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[84/0090] Aber bey ihrer Neigung war ihnen das Mit¬ telmäßige nicht unerträglich, und der herrli¬ che Genuß, mit dem ſie das Gute vor und nach koſteten, war über allen Ausdruck. Das Mechaniſche machte ihnen Freude, das Gei¬ ſtige entzückte ſie, und ihre Neigung war ſo groß, daß auch eine zerſtückelte Probe ſie in eine Art von Illuſion verſetzte. Die Män¬ gel ſchienen ihnen jederzeit in die Ferne zu treten, das Gute berührte ſie wie ein naher Gegenſtand. Kurz ſie waren Liebhaber, wie ſie ſich der Künſtler in ſeinem Fache wünſcht. Ihre liebſte Wanderung war von den Cou¬ liſſen ins Parterr, vom Parterr in die Cou¬ liſſen, ihr angenehmſter Aufenthalt in der Garderobe, ihre emſigſte Beſchäftigung an der Stellung, Kleidung, Recitation und De¬ clamation der Schauſpieler etwas zuzuſtutzen, ihr lebhafteſtes Geſpräch über den Effekt, den man hervorgebracht hatte, und ihre be¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/90>, abgerufen am 26.04.2024.