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Goethe, Johann Wolfgang von: Die neue Melusine. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. 1–43. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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erschien die zweite Hälfte der Melusine, beginnend mit den Worten: "Vernimm also, was ich dir lieber bis in die spätesten Zeiten verborgen hätte." Ja, und am Schlusse läßt der Dichter, welchem jetzt bereits die Rahmenerzählung der Wanderjahre vorschweben mochte, den Erzähler, der bei den ersten Worten als Fremder in die Gesellschaft eingetreten ist, gelassen sagen: "Und so kam ich denn endlich wieder an den Herd zur Köchin, wo ihr mich zuerst habt kennen lernen." Es war denn doch ein bischen Willkürregiment, das dem beschränkten Unterthanenverstand des Publikums geboten wurde, und man darf sich nicht wundern, wenn dieses nachderhand etwas anarchisch geworden ist.

Selbstverständlich geben wir die Einleitung in der späteren Fassung, wie sie in den Wanderjahren steht, und lassen zur Vergegenwärtigung des Zusammenhanges eine kleine Erinnerung vorausgehen. Wilhelm Meister hat die Einladung der eigenthümlichen Gesellschaft angenommen, welcher Lenardo vorsteht. Morgens nach dem Frühstücke sieht er eine Figur in sein Zimmer eintreten, in welcher wir bald den Doppelgänger jenes früheren Erzählers zu erkennen haben, jedoch in der Zeichnung bestimmter gefaßt und zugleich etwas gemildert (soferne wenigstens ein "bei einiger Rohheit gefälliges Betragen" vorübergehend stutzen machen konnte).

"Es war ein wohlgebauter, breitschultriger, auch behender Mann, der sich durch ausgekramtes Geräth als Barbier ankündigte und sich bereitete, Wilhelmen diesen so erwünschten Dienst zu leisten. Uebrigens schwieg er still, und das Geschäft war mit sehr leichter Hand vollbracht, ohne daß er irgend einen Laut von sich gegeben hätte. Wilhelm begann daher und sprach: "Eure Kunst versteht Ihr meisterlich, und ich wüßte nicht, daß ich ein zarteres Messer jemals an meinen Wangen gefühlt hätte, zugleich scheint Ihr aber die Gesetze der Gesellschaft genau zu beobachten." -- Schalkhaft lächelnd,

erschien die zweite Hälfte der Melusine, beginnend mit den Worten: „Vernimm also, was ich dir lieber bis in die spätesten Zeiten verborgen hätte.“ Ja, und am Schlusse läßt der Dichter, welchem jetzt bereits die Rahmenerzählung der Wanderjahre vorschweben mochte, den Erzähler, der bei den ersten Worten als Fremder in die Gesellschaft eingetreten ist, gelassen sagen: „Und so kam ich denn endlich wieder an den Herd zur Köchin, wo ihr mich zuerst habt kennen lernen.“ Es war denn doch ein bischen Willkürregiment, das dem beschränkten Unterthanenverstand des Publikums geboten wurde, und man darf sich nicht wundern, wenn dieses nachderhand etwas anarchisch geworden ist.

Selbstverständlich geben wir die Einleitung in der späteren Fassung, wie sie in den Wanderjahren steht, und lassen zur Vergegenwärtigung des Zusammenhanges eine kleine Erinnerung vorausgehen. Wilhelm Meister hat die Einladung der eigenthümlichen Gesellschaft angenommen, welcher Lenardo vorsteht. Morgens nach dem Frühstücke sieht er eine Figur in sein Zimmer eintreten, in welcher wir bald den Doppelgänger jenes früheren Erzählers zu erkennen haben, jedoch in der Zeichnung bestimmter gefaßt und zugleich etwas gemildert (soferne wenigstens ein „bei einiger Rohheit gefälliges Betragen“ vorübergehend stutzen machen konnte).

„Es war ein wohlgebauter, breitschultriger, auch behender Mann, der sich durch ausgekramtes Geräth als Barbier ankündigte und sich bereitete, Wilhelmen diesen so erwünschten Dienst zu leisten. Uebrigens schwieg er still, und das Geschäft war mit sehr leichter Hand vollbracht, ohne daß er irgend einen Laut von sich gegeben hätte. Wilhelm begann daher und sprach: „Eure Kunst versteht Ihr meisterlich, und ich wüßte nicht, daß ich ein zarteres Messer jemals an meinen Wangen gefühlt hätte, zugleich scheint Ihr aber die Gesetze der Gesellschaft genau zu beobachten.“ — Schalkhaft lächelnd,

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[0009] erschien die zweite Hälfte der Melusine, beginnend mit den Worten: „Vernimm also, was ich dir lieber bis in die spätesten Zeiten verborgen hätte.“ Ja, und am Schlusse läßt der Dichter, welchem jetzt bereits die Rahmenerzählung der Wanderjahre vorschweben mochte, den Erzähler, der bei den ersten Worten als Fremder in die Gesellschaft eingetreten ist, gelassen sagen: „Und so kam ich denn endlich wieder an den Herd zur Köchin, wo ihr mich zuerst habt kennen lernen.“ Es war denn doch ein bischen Willkürregiment, das dem beschränkten Unterthanenverstand des Publikums geboten wurde, und man darf sich nicht wundern, wenn dieses nachderhand etwas anarchisch geworden ist. Selbstverständlich geben wir die Einleitung in der späteren Fassung, wie sie in den Wanderjahren steht, und lassen zur Vergegenwärtigung des Zusammenhanges eine kleine Erinnerung vorausgehen. Wilhelm Meister hat die Einladung der eigenthümlichen Gesellschaft angenommen, welcher Lenardo vorsteht. Morgens nach dem Frühstücke sieht er eine Figur in sein Zimmer eintreten, in welcher wir bald den Doppelgänger jenes früheren Erzählers zu erkennen haben, jedoch in der Zeichnung bestimmter gefaßt und zugleich etwas gemildert (soferne wenigstens ein „bei einiger Rohheit gefälliges Betragen“ vorübergehend stutzen machen konnte). „Es war ein wohlgebauter, breitschultriger, auch behender Mann, der sich durch ausgekramtes Geräth als Barbier ankündigte und sich bereitete, Wilhelmen diesen so erwünschten Dienst zu leisten. Uebrigens schwieg er still, und das Geschäft war mit sehr leichter Hand vollbracht, ohne daß er irgend einen Laut von sich gegeben hätte. Wilhelm begann daher und sprach: „Eure Kunst versteht Ihr meisterlich, und ich wüßte nicht, daß ich ein zarteres Messer jemals an meinen Wangen gefühlt hätte, zugleich scheint Ihr aber die Gesetze der Gesellschaft genau zu beobachten.“ — Schalkhaft lächelnd,

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T15:38:58Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die neue Melusine. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. 1–43. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_melusine_1910/9>, abgerufen am 26.04.2024.