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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

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unter dieser heiligen Gestalt vor ihm zu er¬
scheinen, und wie seltsam muß es ihm vor¬
kommen, dich die er nur natürlich gesehen,
als Maske zu erblicken? Mit einer Schnel¬
ligkeit die keines gleichen hat, wirkten Gefühl
und Betrachtung in ihr gegeneinander. Ihr
Herz war befangen, ihre Augen füllten sich
mit Thränen, indem sie sich zwang immerfort
als ein starres Bild zu erscheinen; und wie
froh war sie, als der Knabe sich zu regen
anfing, und der Künstler sich genöthigt sah
das Zeichen zu geben, daß der Vorhang wie¬
der fallen sollte.

Hatte das peinliche Gefühl, einem wer¬
then Freunde nicht entgegeneilen zu können,
sich schon die letzten Augenblicke zu den übri¬
gen Empfindungen Ottiliens gesellt, so war
sie jetzt in noch größerer Verlegenheit.
Sollte sie in diesem fremden Anzug und
Schmuck ihm entgegengehn? sollte sie sich um¬
kleiden? Sie wählte nicht, sie that das letzte

unter dieſer heiligen Geſtalt vor ihm zu er¬
ſcheinen, und wie ſeltſam muß es ihm vor¬
kommen, dich die er nur natuͤrlich geſehen,
als Maske zu erblicken? Mit einer Schnel¬
ligkeit die keines gleichen hat, wirkten Gefuͤhl
und Betrachtung in ihr gegeneinander. Ihr
Herz war befangen, ihre Augen fuͤllten ſich
mit Thraͤnen, indem ſie ſich zwang immerfort
als ein ſtarres Bild zu erſcheinen; und wie
froh war ſie, als der Knabe ſich zu regen
anfing, und der Kuͤnſtler ſich genoͤthigt ſah
das Zeichen zu geben, daß der Vorhang wie¬
der fallen ſollte.

Hatte das peinliche Gefuͤhl, einem wer¬
then Freunde nicht entgegeneilen zu koͤnnen,
ſich ſchon die letzten Augenblicke zu den uͤbri¬
gen Empfindungen Ottiliens geſellt, ſo war
ſie jetzt in noch groͤßerer Verlegenheit.
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[122/0125] unter dieſer heiligen Geſtalt vor ihm zu er¬ ſcheinen, und wie ſeltſam muß es ihm vor¬ kommen, dich die er nur natuͤrlich geſehen, als Maske zu erblicken? Mit einer Schnel¬ ligkeit die keines gleichen hat, wirkten Gefuͤhl und Betrachtung in ihr gegeneinander. Ihr Herz war befangen, ihre Augen fuͤllten ſich mit Thraͤnen, indem ſie ſich zwang immerfort als ein ſtarres Bild zu erſcheinen; und wie froh war ſie, als der Knabe ſich zu regen anfing, und der Kuͤnſtler ſich genoͤthigt ſah das Zeichen zu geben, daß der Vorhang wie¬ der fallen ſollte. Hatte das peinliche Gefuͤhl, einem wer¬ then Freunde nicht entgegeneilen zu koͤnnen, ſich ſchon die letzten Augenblicke zu den uͤbri¬ gen Empfindungen Ottiliens geſellt, ſo war ſie jetzt in noch groͤßerer Verlegenheit. Sollte ſie in dieſem fremden Anzug und Schmuck ihm entgegengehn? ſollte ſie ſich um¬ kleiden? Sie waͤhlte nicht, ſie that das letzte

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/125>, abgerufen am 27.04.2024.