Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite


Was mich am meisten nekt, sind die fatalen
bürgerlichen Verhältnisse. Zwar weis ich so gut
als einer, wie nöthig der Unterschied der Stände
ist, wie viel Vortheile er mir selbst verschafft, nur
soll er mir nicht eben grad im Wege stehn, wo ich
noch ein wenig Freude, einen Schimmer von
Glük auf dieser Erden geniessen könnte. Jch lern-
te neulich auf dem Spaziergange ein Fräulein von
B.. kennen, ein liebenswürdiges Geschöpf, das
sehr viele Natur mitten in dem steifen Leben er-
halten hat. Wir gefielen uns in unserm Gesprä-
che, und da wir schieden, bat ich sie um Erlaub-
niß, sie bey sich sehen zu dürfen. Sie gestattete
mir das mit so viel Freymüthigkeit, daß ich den
schiklichen Augenblik kaum erwarten konnte, zu ihr
zu gehen. Sie ist nicht von hier, und wohnt bey
einer Tante im Hause. Die Physiognomie der al-
ten Schachtel gefiel mir nicht. Jch bezeigte ihr
viel Aufmerksamkeit, mein Gespräch war meist an
sie gewandt, und in minder als einer halben Stun-
de hatte ich so ziemlich weg, was mir das Fräu-
lein nachher selbst gestund: daß die liebe Tante
in ihrem Alter, und dem Mangel von allem, vom

an-


Was mich am meiſten nekt, ſind die fatalen
buͤrgerlichen Verhaͤltniſſe. Zwar weis ich ſo gut
als einer, wie noͤthig der Unterſchied der Staͤnde
iſt, wie viel Vortheile er mir ſelbſt verſchafft, nur
ſoll er mir nicht eben grad im Wege ſtehn, wo ich
noch ein wenig Freude, einen Schimmer von
Gluͤk auf dieſer Erden genieſſen koͤnnte. Jch lern-
te neulich auf dem Spaziergange ein Fraͤulein von
B.. kennen, ein liebenswuͤrdiges Geſchoͤpf, das
ſehr viele Natur mitten in dem ſteifen Leben er-
halten hat. Wir gefielen uns in unſerm Geſpraͤ-
che, und da wir ſchieden, bat ich ſie um Erlaub-
niß, ſie bey ſich ſehen zu duͤrfen. Sie geſtattete
mir das mit ſo viel Freymuͤthigkeit, daß ich den
ſchiklichen Augenblik kaum erwarten konnte, zu ihr
zu gehen. Sie iſt nicht von hier, und wohnt bey
einer Tante im Hauſe. Die Phyſiognomie der al-
ten Schachtel gefiel mir nicht. Jch bezeigte ihr
viel Aufmerkſamkeit, mein Geſpraͤch war meiſt an
ſie gewandt, und in minder als einer halben Stun-
de hatte ich ſo ziemlich weg, was mir das Fraͤu-
lein nachher ſelbſt geſtund: daß die liebe Tante
in ihrem Alter, und dem Mangel von allem, vom

an-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="diaryEntry">
        <pb facs="#f0010" n="122"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p>Was mich am mei&#x017F;ten nekt, &#x017F;ind die fatalen<lb/>
bu&#x0364;rgerlichen Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e. Zwar weis ich &#x017F;o gut<lb/>
als einer, wie no&#x0364;thig der Unter&#x017F;chied der Sta&#x0364;nde<lb/>
i&#x017F;t, wie viel Vortheile er mir &#x017F;elb&#x017F;t ver&#x017F;chafft, nur<lb/>
&#x017F;oll er mir nicht eben grad im Wege &#x017F;tehn, wo ich<lb/>
noch ein wenig Freude, einen Schimmer von<lb/>
Glu&#x0364;k auf die&#x017F;er Erden genie&#x017F;&#x017F;en ko&#x0364;nnte. Jch lern-<lb/>
te neulich auf dem Spaziergange ein Fra&#x0364;ulein von<lb/>
B.. kennen, ein liebenswu&#x0364;rdiges Ge&#x017F;cho&#x0364;pf, das<lb/>
&#x017F;ehr viele Natur mitten in dem &#x017F;teifen Leben er-<lb/>
halten hat. Wir gefielen uns in un&#x017F;erm Ge&#x017F;pra&#x0364;-<lb/>
che, und da wir &#x017F;chieden, bat ich &#x017F;ie um Erlaub-<lb/>
niß, &#x017F;ie bey &#x017F;ich &#x017F;ehen zu du&#x0364;rfen. Sie ge&#x017F;tattete<lb/>
mir das mit &#x017F;o viel Freymu&#x0364;thigkeit, daß ich den<lb/>
&#x017F;chiklichen Augenblik kaum erwarten konnte, zu ihr<lb/>
zu gehen. Sie i&#x017F;t nicht von hier, und wohnt bey<lb/>
einer Tante im Hau&#x017F;e. Die Phy&#x017F;iognomie der al-<lb/>
ten Schachtel gefiel mir nicht. Jch bezeigte ihr<lb/>
viel Aufmerk&#x017F;amkeit, mein Ge&#x017F;pra&#x0364;ch war mei&#x017F;t an<lb/>
&#x017F;ie gewandt, und in minder als einer halben Stun-<lb/>
de hatte ich &#x017F;o ziemlich weg, was mir das Fra&#x0364;u-<lb/>
lein nachher &#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;tund: daß die liebe Tante<lb/>
in ihrem Alter, und dem Mangel von allem, vom<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">an-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[122/0010] Was mich am meiſten nekt, ſind die fatalen buͤrgerlichen Verhaͤltniſſe. Zwar weis ich ſo gut als einer, wie noͤthig der Unterſchied der Staͤnde iſt, wie viel Vortheile er mir ſelbſt verſchafft, nur ſoll er mir nicht eben grad im Wege ſtehn, wo ich noch ein wenig Freude, einen Schimmer von Gluͤk auf dieſer Erden genieſſen koͤnnte. Jch lern- te neulich auf dem Spaziergange ein Fraͤulein von B.. kennen, ein liebenswuͤrdiges Geſchoͤpf, das ſehr viele Natur mitten in dem ſteifen Leben er- halten hat. Wir gefielen uns in unſerm Geſpraͤ- che, und da wir ſchieden, bat ich ſie um Erlaub- niß, ſie bey ſich ſehen zu duͤrfen. Sie geſtattete mir das mit ſo viel Freymuͤthigkeit, daß ich den ſchiklichen Augenblik kaum erwarten konnte, zu ihr zu gehen. Sie iſt nicht von hier, und wohnt bey einer Tante im Hauſe. Die Phyſiognomie der al- ten Schachtel gefiel mir nicht. Jch bezeigte ihr viel Aufmerkſamkeit, mein Geſpraͤch war meiſt an ſie gewandt, und in minder als einer halben Stun- de hatte ich ſo ziemlich weg, was mir das Fraͤu- lein nachher ſelbſt geſtund: daß die liebe Tante in ihrem Alter, und dem Mangel von allem, vom an-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/10
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/10>, abgerufen am 30.04.2024.