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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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nen Schritt, der nicht merkwürdig war. Ein Pil-
ger im heiligen Lande trifft nicht so viel Stäten
religioser Erinnerung, und seine Seele ist schwer-
lich so voll heiliger Bewegung. -- Noch eins für
tausend. Jch gieng den Fluß hinab, bis an einen
gewissen Hof, das war sonst auch mein Weg, und
die Pläzgen da wir Knaben uns übten, die mei-
sten Sprünge der flachen Steine im Wasser her-
vorzubringen. Jch erinnere mich so lebhaft, wenn
ich manchmal stand, und dem Wasser nachsah, mit
wie wunderbaren Ahndungen ich das verfolgte, wie
abenteuerlich ich mir die Gegenden vorstellte, wo
es nun hinflösse, und wie ich da so bald Gren-
zen meiner Vorstellungskraft fand, und doch mußte
das weiter gehn, immer weiter, bis ich mich ganz
in dem Anschauen einer unsichtbaren Ferne ver-
lohr. Siehe mein Lieber, das ist doch eben das
Gefühl der herrlichen Altväter! Wenn Ulyß von
dem ungemessenen Meere, und von der unendlichen
Erde spricht, ist das nicht wahrer, menschlicher, in-
niger, als wenn jezzo jeder Schulknabe sich wun-
der weise dünkt, wenn er nachsagen kann, daß sie
rund sey.

Nun



nen Schritt, der nicht merkwuͤrdig war. Ein Pil-
ger im heiligen Lande trifft nicht ſo viel Staͤten
religioſer Erinnerung, und ſeine Seele iſt ſchwer-
lich ſo voll heiliger Bewegung. — Noch eins fuͤr
tauſend. Jch gieng den Fluß hinab, bis an einen
gewiſſen Hof, das war ſonſt auch mein Weg, und
die Plaͤzgen da wir Knaben uns uͤbten, die mei-
ſten Spruͤnge der flachen Steine im Waſſer her-
vorzubringen. Jch erinnere mich ſo lebhaft, wenn
ich manchmal ſtand, und dem Waſſer nachſah, mit
wie wunderbaren Ahndungen ich das verfolgte, wie
abenteuerlich ich mir die Gegenden vorſtellte, wo
es nun hinfloͤſſe, und wie ich da ſo bald Gren-
zen meiner Vorſtellungskraft fand, und doch mußte
das weiter gehn, immer weiter, bis ich mich ganz
in dem Anſchauen einer unſichtbaren Ferne ver-
lohr. Siehe mein Lieber, das iſt doch eben das
Gefuͤhl der herrlichen Altvaͤter! Wenn Ulyß von
dem ungemeſſenen Meere, und von der unendlichen
Erde ſpricht, iſt das nicht wahrer, menſchlicher, in-
niger, als wenn jezzo jeder Schulknabe ſich wun-
der weiſe duͤnkt, wenn er nachſagen kann, daß ſie
rund ſey.

Nun
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[141/0029] nen Schritt, der nicht merkwuͤrdig war. Ein Pil- ger im heiligen Lande trifft nicht ſo viel Staͤten religioſer Erinnerung, und ſeine Seele iſt ſchwer- lich ſo voll heiliger Bewegung. — Noch eins fuͤr tauſend. Jch gieng den Fluß hinab, bis an einen gewiſſen Hof, das war ſonſt auch mein Weg, und die Plaͤzgen da wir Knaben uns uͤbten, die mei- ſten Spruͤnge der flachen Steine im Waſſer her- vorzubringen. Jch erinnere mich ſo lebhaft, wenn ich manchmal ſtand, und dem Waſſer nachſah, mit wie wunderbaren Ahndungen ich das verfolgte, wie abenteuerlich ich mir die Gegenden vorſtellte, wo es nun hinfloͤſſe, und wie ich da ſo bald Gren- zen meiner Vorſtellungskraft fand, und doch mußte das weiter gehn, immer weiter, bis ich mich ganz in dem Anſchauen einer unſichtbaren Ferne ver- lohr. Siehe mein Lieber, das iſt doch eben das Gefuͤhl der herrlichen Altvaͤter! Wenn Ulyß von dem ungemeſſenen Meere, und von der unendlichen Erde ſpricht, iſt das nicht wahrer, menſchlicher, in- niger, als wenn jezzo jeder Schulknabe ſich wun- der weiſe duͤnkt, wenn er nachſagen kann, daß ſie rund ſey. Nun

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/29>, abgerufen am 29.04.2024.