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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Es geht mir nicht allein so. Alle Menschen
werden in ihren Hofnungen getäuscht, in ih-
ren Erwartungen betrogen. Jch besuchte mein gu-
tes Weib unter der Linde. Der ältste Bub lief
mir entgegen, sein Freudengeschrey führte die Mut-
ter herbey, die sehr niedergeschlagen aussah. Jhr
erstes Wort war: Guter Herr! ach mein Hanns
ist mir gestorben, es war der jüngste ihrer Knaben,
ich war stille, und mein Mann sagte sie, ist aus
der Schweiz zurük, und hat nichts mit gebracht,
und ohne gute Leute hätte er sich heraus betteln
müssen. Er hatte das Fieber kriegt unterwegs.
Jch konnte ihr nichts sagen, und schenkte dem klei-
nen was, sie bat mich einige Aepfel anzunehmen,
das ich that und den Ort des traurigen Andenkens
verließ.




Wie man eine Hand umwendet, ist's anders
mit mir. Manchmal will so ein freudiger
Blik des Lebens wieder aufdämmern, ach nur für

einen





Es geht mir nicht allein ſo. Alle Menſchen
werden in ihren Hofnungen getaͤuſcht, in ih-
ren Erwartungen betrogen. Jch beſuchte mein gu-
tes Weib unter der Linde. Der aͤltſte Bub lief
mir entgegen, ſein Freudengeſchrey fuͤhrte die Mut-
ter herbey, die ſehr niedergeſchlagen ausſah. Jhr
erſtes Wort war: Guter Herr! ach mein Hanns
iſt mir geſtorben, es war der juͤngſte ihrer Knaben,
ich war ſtille, und mein Mann ſagte ſie, iſt aus
der Schweiz zuruͤk, und hat nichts mit gebracht,
und ohne gute Leute haͤtte er ſich heraus betteln
muͤſſen. Er hatte das Fieber kriegt unterwegs.
Jch konnte ihr nichts ſagen, und ſchenkte dem klei-
nen was, ſie bat mich einige Aepfel anzunehmen,
das ich that und den Ort des traurigen Andenkens
verließ.




Wie man eine Hand umwendet, iſt’s anders
mit mir. Manchmal will ſo ein freudiger
Blik des Lebens wieder aufdaͤmmern, ach nur fuͤr

einen
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[146/0034] am 4. Auguſt. Es geht mir nicht allein ſo. Alle Menſchen werden in ihren Hofnungen getaͤuſcht, in ih- ren Erwartungen betrogen. Jch beſuchte mein gu- tes Weib unter der Linde. Der aͤltſte Bub lief mir entgegen, ſein Freudengeſchrey fuͤhrte die Mut- ter herbey, die ſehr niedergeſchlagen ausſah. Jhr erſtes Wort war: Guter Herr! ach mein Hanns iſt mir geſtorben, es war der juͤngſte ihrer Knaben, ich war ſtille, und mein Mann ſagte ſie, iſt aus der Schweiz zuruͤk, und hat nichts mit gebracht, und ohne gute Leute haͤtte er ſich heraus betteln muͤſſen. Er hatte das Fieber kriegt unterwegs. Jch konnte ihr nichts ſagen, und ſchenkte dem klei- nen was, ſie bat mich einige Aepfel anzunehmen, das ich that und den Ort des traurigen Andenkens verließ. am 21. Aug. Wie man eine Hand umwendet, iſt’s anders mit mir. Manchmal will ſo ein freudiger Blik des Lebens wieder aufdaͤmmern, ach nur fuͤr einen

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/34>, abgerufen am 29.04.2024.