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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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eine Freundinn zu Lotten, und ich gieng herein in's
Nebenzimmer, ein Buch zu nehmen, und konnte
nicht lesen, und dann nahm ich eine Feder zu schrei-
ben. Jch hörte sie leise reden, sie erzählten ein-
ander insosern unbedeutende Sachen, Stadtneuig-
keiten: wie diese heyrathet, wie jene krank, sehr
krank ist. Sie hat einen troknen Husten, die Kno-
chen stehn ihr zum Gesichte heraus, und kriegt
Ohnmachten, ich gebe keinen Kreuzer für ihr Leben,
sagte die eine. Der N. N. ist auch so übel dran,
sagte Lotte. Er ist schon geschwollen, sagte die an-
dre. Und meine lebhafte Einbildungskraft versezte
mich an's Bette dieser Armen, ich sah sie, mit wel-
chem Widerwillen sie dem Leben den Rükken wand-
ten, wie sie -- Wilhelm, und meine Weibgens
redeten davon, wie man eben davon redt: daß
ein Fremder stirbt. -- Und wenn ich mich um-
sehe, und seh das Zimmer an, und ringsum
mich Lottens Kleider, hier ihre Ohrringe auf
dem Tischgen, und Alberts Scripturen und diese
Meubels, denen ich nun so besreundet bin, so gar
diesem Dintensaß; und denke: Sieh, was du nun
diesem Hause bist! Alles in allem. Deine Freunde

ehren



eine Freundinn zu Lotten, und ich gieng herein in’s
Nebenzimmer, ein Buch zu nehmen, und konnte
nicht leſen, und dann nahm ich eine Feder zu ſchrei-
ben. Jch hoͤrte ſie leiſe reden, ſie erzaͤhlten ein-
ander inſoſern unbedeutende Sachen, Stadtneuig-
keiten: wie dieſe heyrathet, wie jene krank, ſehr
krank iſt. Sie hat einen troknen Huſten, die Kno-
chen ſtehn ihr zum Geſichte heraus, und kriegt
Ohnmachten, ich gebe keinen Kreuzer fuͤr ihr Leben,
ſagte die eine. Der N. N. iſt auch ſo uͤbel dran,
ſagte Lotte. Er iſt ſchon geſchwollen, ſagte die an-
dre. Und meine lebhafte Einbildungskraft verſezte
mich an’s Bette dieſer Armen, ich ſah ſie, mit wel-
chem Widerwillen ſie dem Leben den Ruͤkken wand-
ten, wie ſie — Wilhelm, und meine Weibgens
redeten davon, wie man eben davon redt: daß
ein Fremder ſtirbt. — Und wenn ich mich um-
ſehe, und ſeh das Zimmer an, und ringsum
mich Lottens Kleider, hier ihre Ohrringe auf
dem Tiſchgen, und Alberts Scripturen und dieſe
Meubels, denen ich nun ſo beſreundet bin, ſo gar
dieſem Dintenſaß; und denke: Sieh, was du nun
dieſem Hauſe biſt! Alles in allem. Deine Freunde

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[154/0042] eine Freundinn zu Lotten, und ich gieng herein in’s Nebenzimmer, ein Buch zu nehmen, und konnte nicht leſen, und dann nahm ich eine Feder zu ſchrei- ben. Jch hoͤrte ſie leiſe reden, ſie erzaͤhlten ein- ander inſoſern unbedeutende Sachen, Stadtneuig- keiten: wie dieſe heyrathet, wie jene krank, ſehr krank iſt. Sie hat einen troknen Huſten, die Kno- chen ſtehn ihr zum Geſichte heraus, und kriegt Ohnmachten, ich gebe keinen Kreuzer fuͤr ihr Leben, ſagte die eine. Der N. N. iſt auch ſo uͤbel dran, ſagte Lotte. Er iſt ſchon geſchwollen, ſagte die an- dre. Und meine lebhafte Einbildungskraft verſezte mich an’s Bette dieſer Armen, ich ſah ſie, mit wel- chem Widerwillen ſie dem Leben den Ruͤkken wand- ten, wie ſie — Wilhelm, und meine Weibgens redeten davon, wie man eben davon redt: daß ein Fremder ſtirbt. — Und wenn ich mich um- ſehe, und ſeh das Zimmer an, und ringsum mich Lottens Kleider, hier ihre Ohrringe auf dem Tiſchgen, und Alberts Scripturen und dieſe Meubels, denen ich nun ſo beſreundet bin, ſo gar dieſem Dintenſaß; und denke: Sieh, was du nun dieſem Hauſe biſt! Alles in allem. Deine Freunde ehren

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/42>, abgerufen am 28.04.2024.