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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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des Reimes haben für unsere Zeit keine andere Bedeutung, als daß sie pgo_205.002
mit Glück zu onomatopöischer Malerei angewendet werden können.

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Der Reim, als der volle Gleichklang der Sylben und Wörter bei pgo_205.004
verschiedenen Anfangsbuchstaben, behauptet seine Bedeutung für die pgo_205.005
deutsche Poesie auch, seit dieselbe in ihrer Weise die antiken Versmaaße pgo_205.006
nachgeahmt und dem eigenen Sylbenmaaß ein festes Gesetz gegeben. Da pgo_205.007
sie dadurch nicht zu einer quantitirenden im alten, plastischen Sinne pgo_205.008
des Wortes geworden, sondern eine accentuirende geblieben ist: so ist der pgo_205.009
Reim nicht zu einem luxuriösen Klange herabgesetzt, sondern der nothwendige pgo_205.010
musikalische Schlußstein des Rhythmus geblieben. Auch ist es pgo_205.011
eine irrige Ansicht vieler Philosophen und Aesthetiker, daß der kunstvollere pgo_205.012
Rhythmus und der Reim sich ausschließen, daß z. B. die Architektonik der pgo_205.013
antiken Strophe den Reim unter keiner Bedingung ertrage. Sie vergessen pgo_205.014
dabei ganz, daß der deutsche Rhythmus vom antiken wesentlich pgo_205.015
verschieden ist, indem bei ihm nicht die Guantität, sondern der geistige pgo_205.016
Accent entscheidet, und daß der Reim wesentlich dazu beiträgt, ihn hervorzuheben. pgo_205.017
So sagt Guest in seiner "history of English Rhythmus" pgo_205.018
(London, 1838, I., 116.): "Der Reim ist nicht, wie man gewöhnlich pgo_205.019
glaubt, eine bloße Zierde; er markirt den Accent und hebt ihn hervor pgo_205.020
und trägt und kräftigt dadurch den Rhythmus*)." Seine Bedeutung pgo_205.021
für die Strophenbildung werden wir später kennen lernen. Deshalb hab' pgo_205.022
ich in meinen "Neuen Gedichten" gewagt, die antiken Horazischen Strophen pgo_205.023
zu reimen, indem ich überzeugt bin, daß gerade ihr rhythmischer pgo_205.024
Gehalt, statt dadurch abgeschwächt zu werden, weit lebhafter hervorgehoben pgo_205.025
wird und sich dem deutschen Ohr melodischer einschmeichelt. Die pgo_205.026
Strophen selbst sondern sich klarer; unnöthige enjambements, Worthäufungen, pgo_205.027
pedantische Konstruktionen werden vermieden, indem der Reim pgo_205.028
selbst auf größere Lichtung des Ausdrucks hinwirkt; der rhythmische pgo_205.029
Gang aber prägt sich durch den volltönenden Abschluß der Zeile um so pgo_205.030
lebhafter dem Ohre ein. Sollte es mir nicht gelungen sein, die Vorzüge pgo_205.031
dieser Neuerung zur Geltung zu bringen: so liegt der Fehler nur an der pgo_205.032
Schwäche meines Talentes, keineswegs an dem Princip selbst, das ein

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It marks and defines the accent and thereby strengthens and supports pgo_205.034
the rhythm.

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des Reimes haben für unsere Zeit keine andere Bedeutung, als daß sie pgo_205.002
mit Glück zu onomatopöischer Malerei angewendet werden können.

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Der Reim, als der volle Gleichklang der Sylben und Wörter bei pgo_205.004
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deutsche Poesie auch, seit dieselbe in ihrer Weise die antiken Versmaaße pgo_205.006
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und trägt und kräftigt dadurch den Rhythmus*).“ Seine Bedeutung pgo_205.021
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dieser Neuerung zur Geltung zu bringen: so liegt der Fehler nur an der pgo_205.032
Schwäche meines Talentes, keineswegs an dem Princip selbst, das ein

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/227>, abgerufen am 26.04.2024.