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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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aus der bestimmten Situation heraus in die Weite geschichtlicher Perspektiven pgo_318.002
führen. Wo Tibull schmachtend und weich erscheint, verräth pgo_318.003
Properz eine leidenschaftliche Gluth -- und gerade dies Feuer markiger pgo_318.004
Empfindung sichert ihm eine gleiche Stellung neben dem nationalsten pgo_318.005
römischen Elegiker. Der dritte, Publius Ovidius Naso, der pgo_318.006
genialste aller römischen Dichter, zeigt uns, ähnlich wie Heinrich Heine pgo_318.007
in neuester Zeit, die Auflösung des Glaubens und der Liebe, allerdings pgo_318.008
noch auf dem plastischen Grunde des antiken Lebens, aber doch schon mit pgo_318.009
allem Witze einer freispielenden Jronie. Er giebt sich niemals der pgo_318.010
Situation, die er schildert, mit Andacht hin; er zeigt immer in einzelnen pgo_318.011
Wendungen, daß er über derselben steht. Er gefällt sich in der frivolen pgo_318.012
Ausbeutung der dargestellten Liebesscenen, zeigt aber dabei eine so hinreißende pgo_318.013
Grazie des Ausdrucks, einen so leichten Fluß von Bild und pgo_318.014
Gedanken, eine so anmuthig tändelnde Beredtsamkeit, daß es schwer ist, pgo_318.015
dieser verführerischen Begabung zu widerstehn. Der erotischen Gattung pgo_318.016
gehören seine amores an, eine ebenso durch die Virtuosität der Darstellung, pgo_318.017
wie durch ihre unbekümmerte Offenherzigkeit fesselnde Liebesbeichte. pgo_318.018
Die "Tristien" dagegen bringen uns die Klagen des Verbannten, pgo_318.019
die oft in einen larmoyanten Ton verfallen, da Ovid diesem pgo_318.020
Geschick geistig zu erliegen schien und nicht die Ueberlegenheit seines so pgo_318.021
souverain selbst die Götter herausfordernden Witzes ebenso bewährte, wie pgo_318.022
etwa Heinrich Heine in seiner qualvollen Krankheit. Doch ist, trotz einförmiger pgo_318.023
Wiederholungen, die Form der "Tristien" fließend, gefällig, pgo_318.024
von melodischem Zauber. Dasselbe gilt von den "epistolae ex pgo_318.025
Ponto
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großen römischen Elegiker ging Catull voraus in noch ungeschulter Nachahmung pgo_318.027
griechischer Muster. Zahlreiche Nachdichtungen der klassischen pgo_318.028
Elegie, deren Bedeutung mit ihnen erlosch, geben neulateinische und pgo_318.029
italienische Poeten. Jn neuester Zeit hat Goethe in den "römischen pgo_318.030
Elegieen
" den Ton des Properz mit bewundernswerther Sicherheit pgo_318.031
getroffen, August Wilhelm Schlegel in seiner Elegie "Rom" und pgo_318.032
Schiller in seinem "Spaziergang" die antiken Distichen, jener zur pgo_318.033
Darstellung welthistorischer Trauer, dieser zu einer an wechselnde Bilder pgo_318.034
anknüpfenden Reflexion im Geiste der alten Elegiker kunstvoll benutzt.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/340>, abgerufen am 02.05.2024.