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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Attinghausen das Schweizer Volk selbst in seinen einzelnen Ständen individualisirt pgo_335.002
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und seiner That, einen vorwiegend epischen Eindruck macht.

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Die epischen Charaktere dürfen den ganzen Reichthum der Menschennatur pgo_335.005
entfalten! Zwar wiegt eine Eigenschaft in ihnen vor, das edle pgo_335.006
Jugendfeuer im "Achill," die listige Gewandheit im Odysseus -- aber sie pgo_335.007
zeigen sich uns in so verschiedenen Lagen, von so verschiedenen Seiten, pgo_335.008
daß jener Grundzug des Charakters nie mit einseitiger Bestimmtheit pgo_335.009
hervortritt. Niemals wird er dramatisch in eine einzige That gelegt! pgo_335.010
Und weil der epische Charakter von den Begebenheiten und Verhältnissen pgo_335.011
getragen wird, so darf eine gewisse Passivität vorwiegen, und die Engelhaftigkeit pgo_335.012
der schönen Seelen eher im Epos als im Drama auf Verzeihung pgo_335.013
rechnen. Jean Paul beschäftigt sich angelegentlich mit dieser pgo_335.014
Frage von der Vollkommenheit der Charaktere. Er hat ein persönliches pgo_335.015
Jnteresse dabei, weil seine Klotilden und Lianen engelhafte gleichsam der pgo_335.016
schweren Atmosphäre der Erde entrückte Gestalten sind. Jndeß hat die pgo_335.017
abstrakte Jdealität solcher vollkommenen Menschen, solcher "hohen" Eremiten, pgo_335.018
wie Emanuel, etwas Befremdendes, indem der Dichter vergißt, pgo_335.019
die Mängel hervorzuheben, die gerade diesen erhabenen Erscheinungen, pgo_335.020
die sich mit der Erde nicht einlassen, anhaften. Auch der Messias pgo_335.021
Klopstock's interessirt nicht als epischer Held, weil seine Erhabenheit nicht pgo_335.022
mit irdischem Maaß zu messen, weil er zugleich über den Wettern steht, pgo_335.023
mit denen er kämpft. Auf der andern Seite können solche abstrakte Teufel, pgo_335.024
wie Abbadonnah, ebenfalls kein tieferes Jnteresse einflößen. Dagegen pgo_335.025
kann das Epos dämonische Charaktere, Gestalten von innerer und äußerer pgo_335.026
Häßlichkeit, zu denen selbst die plastische Kunst des Homer im Thersites pgo_335.027
ein Modell gegeben, mit größerer Vertiefung schildern, als das Drama, pgo_335.028
indem es Muße hat, sowohl die Erscheinung in aller Breite auszumalen, pgo_335.029
als auch die Weltanschauung in erschöpfender Weise auszusprechen. Der pgo_335.030
epische Hauptheld selbst bewegt sich indeß am richtigsten in der schönen pgo_335.031
Mitte der Menschlichkeit, und wir fügen hinzu, der Bildung. Helden pgo_335.032
und Heldinnen aus den untersten Schichten der Gesellschaft, wie sie in den pgo_335.033
neuern französischen und englischen Mysterienromanen und in den deutschen pgo_335.034
Dorfgeschichten beliebt sind, versetzen uns in eine Sphäre, in welcher pgo_335.035
der Charakter nicht jene völlige Reife erlangen kann, die ihm nur die

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Attinghausen das Schweizer Volk selbst in seinen einzelnen Ständen individualisirt pgo_335.002
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und seiner That, einen vorwiegend epischen Eindruck macht.

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Die epischen Charaktere dürfen den ganzen Reichthum der Menschennatur pgo_335.005
entfalten! Zwar wiegt eine Eigenschaft in ihnen vor, das edle pgo_335.006
Jugendfeuer im „Achill,“ die listige Gewandheit im Odysseus — aber sie pgo_335.007
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/357>, abgerufen am 28.04.2024.