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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Der Epiker sieht die Welt als ein Ganzes in unendlicher Verkettung pgo_338.002
von Ursache und Wirkung. Diese innere Nothwendigkeit duldet und pgo_338.003
erklärt den Zufall. Für das neue Epos und den Roman besteht die pgo_338.004
geistige Welt der Kultur, des politischen und socialen Lebens als eine pgo_338.005
feste Macht, und in ihr kreisen die Räder der neuen Göttermaschinerie. pgo_338.006
Der dramatische Held bricht in diese Welt mit einer kühnen That, welche pgo_338.007
ihre Fäden verwirrt; der epische spinnt sich in diese Fäden ein und entwickelt pgo_338.008
sich erst aus diesem Kulturgespinnst zu einem Falter, welcher die pgo_338.009
Farben schönster Menschlichkeit auf seinen Psycheschwingen trägt. Die pgo_338.010
stillwaltende Nothwendigkeit des Epos nimmt alle Bedingungen der pgo_338.011
menschlichen Existenz in sich auf. Vor dem Auge des Epikers schwebt pgo_338.012
immer der ganze Kosmos. Er ist kein sittlicher Rhadamanth! Er sieht pgo_338.013
den Einzelnen verstrickt in ein Netz von Elementen, welche Natur und pgo_338.014
Kultur ihm über das Haupt geworfen, seine Entwickelung ist ein Kampf pgo_338.015
mit ihnen; der Epiker schaut sie mit den Augen des Spinoza sub specie pgo_338.016
aeternitatis an und zeigt uns im Ringen des Einzelnen das Ringen pgo_338.017
der ganzen Menschheit.

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Aus diesem Anlehnen an die unerbittliche Logik des Weltgesetzes, an pgo_338.019
die fest ineinander greifende Kette von Ursache und Wirkung folgt für die pgo_338.020
Komposition des Epos die Nothwendigkeit einer stetigen Entwickelung, pgo_338.021
eines ununterbrochenen Fortschrittes ohne Sprünge in Raum pgo_338.022
und Zeit. Der Epiker kann uns durch weite Räume führen, aber wir pgo_338.023
müssen den Helden Schritt für Schritt auf seiner Wanderschaft begleiten. pgo_338.024
Es darf keine Lücke eintreten, wo uns seine Führung verläßt. Die Jrrfahrten pgo_338.025
des Odysseus von Jlium bis zu seiner Heimkehr nach Jthaka pgo_338.026
erfahren wir in ihrem vollständigen Zusammenhang, wenngleich ihre pgo_338.027
Erzählung in sich gebrochen ist, da sie theils der Dichter selbst vorträgt, pgo_338.028
theils seinen Helden vortragen läßt. Dadurch tritt eine kleine, aber pgo_338.029
spannende Verschiebung in der Zeit ein, indem wir das Spätere mit dem pgo_338.030
Helden selbst miterleben, ehe wir das Frühere aus seinem Mund erfahren. pgo_338.031
Das Gesetz epischer Stetigkeit wird dadurch nicht verletzt; denn pgo_338.032
die Erzählung selbst schließt sich zwanglos als eine Begebenheit an die pgo_338.033
Kette der andern an. Wenn wir Odysseus bis zu den Fäaken, Aeneas pgo_338.034
bis zur Dido begleiten: so gehört die Erzählung des Vergangenen mit in pgo_338.035
den Kreis der Erlebnisse der Helden. Der neue Roman hat von diesem

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Der Epiker sieht die Welt als ein Ganzes in unendlicher Verkettung pgo_338.002
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/360>, abgerufen am 27.04.2024.